Präsident der Herzen
Auf einer riesengroßen Welle der Sympathie ist Joachim Gauck vor 100 Tagen ins Amt des Bundespräsidenten getragen worden. Ja, das ist erst 100 Tage her. Erst im Februar war Christian Wulff zurückgetreten, gegen den aktuell die Staatsanwaltschaft ermittelt (neuester Vorwurf: Er soll 10000 Euro des Leo-Baeck-Preises auf sein Privatkonto eingezahlt haben).
Gaucks Amtszeit kommt einem länger vor, als sie tatsächlich ist. Vielleicht, weil er schon bei der Wulff-Kür als Bundespräsident der Herzen galt. Das Herz bemüht Gauck heute immer noch gern. Viele Dinge sind ihm eine „Herzensangelegenheit“, die deutsch-israelischen Beziehungen genauso wie die zu Polen oder zu den Niederlanden. Der 72-jährige Pastor ist gern ergriffen, er liebt das Emotionale, oft lässt er es in den Augenwinkeln glitzern.
Das kann auf Dauer nervig sein, aber noch findet er das richtige Maß. Denn er ist auch kein Sülzer, der die Menschen auf Kleine-Prinz-Art mit erwartbaren Poesiealbumssprüchen einseift. Im Gegenteil: Oft ist er auch angeeckt, mit seinen Äußerungen zum Islam, mit dem Lob der deutschen Soldaten als „Mutbürger“, mit der Kritik an den „glückssüchtigen“ Deutschen. 78 Prozent der Bundesbürger schätzen ihn.
Weil Gauck es sich erlaubt, laut nachzudenken, und das auch von den Bürgern erwartet. Nun hat er seine Unterschrift unter das ESM-Gesetz vorerst verweigert. Dafür gab’s viel Kritik. Doch in der Euro-Krise mit all ihren hektischen Nachtsitzungen muss auch dafür Platz sein, für das Gaucksche Prinzip: Das Nachdenken.