Politologin zum Prigoschin-Marsch in Russland: "Es ist definitiv mehr passiert, als wir gesehen haben"
Das Bild von Wladimir Putin als alles beherrschenden starken Mann in Russland hat am Samstag starke Risse bekommen. Nahezu ungehindert marschierte Jewgeni Prigoschin mit seiner Söldner-Armee bis kurz vor Moskau. Erst auf Vermittlung des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko gab der Wagner-Chef klein bei.
Doch: Entgegen der Drohungen Putins, die "Verräter" knallhart zur Rechenschaft zu ziehen, kommt Prigoschin wohl straffrei davon. Die Politologin Petra Stykow erklärt im AZ-Interview, wie die Geschehnisse in Russland einzuordnen sind.
Putsch-Versuch in Russland: "Mehr passiert, als wir gesehen haben"
AZ: Frau Professor Stykow, was haben wir da am Wochenende in Russland gesehen? Eine Inszenierung?
PETRA STYKOW: Es ist definitiv mehr passiert, als wir gesehen haben, und möglicherweise etwas ganz anderes. Wir bekommen aus verschiedenen Quellen ganz unterschiedliche Nachrichten. Was wirklich stimmt, lässt sich nicht verifizieren.

Dass etwas anderes passiert ist, heißt, dass es ganz andere Drahtzieher und Beweggründe gibt als die, die wir jetzt sehen?
Das Geschehen macht so keinen großen Sinn. Dass Jewgeni Prigoschin Wladimir Putin absetzt, hat er nie behauptet und wahrscheinlich auch nie vorgehabt. Warum unternimmt er dann diesen Marsch? Wenn er kurz vor Moskau wendet, was hat er dann dafür bekommen?
So, wie das ganze System funktioniert, ist es nicht glaubwürdig, dass jemand Prigoschin verspricht, dass ihm nichts passiert und er einfach ausreisen kann. Die Loyalitäten sind ja alle aufgekündigt. Es ist wirklich wie ein Wimmelbild. Man wird sich in ein paar Tagen einen Reim darauf machen können - hoffentlich.
Reaktion des Westens auf den Prigoschin-Putsch: "Nicht aktivistisch werden, wenn man nicht weiß, was geschieht"
Ist diese Ungewissheit auch ein Grund dafür, dass der Westen bislang eher zögerlich auf die Ereignisse reagiert hat?
Ja – was soll der Westen auch machen? Das ist kein Wissenschaftsversagen, kein Journalistenversagen. Es ist bloß kein Geschehen, das wir sinnvoll einordnen können, wenn wir uns nicht auf Verschwörungstheorien zurückziehen wollen.
Was kann der Westen also tun?
Er kann nur abwarten. Man sollte nicht aktivistisch werden, wenn man nicht genau weiß, was eigentlich geschieht.
Vor allem in der Ukraine gab es Stimmen, die in den Ereignissen den Anfang vom Ende der Präsidentschaft des Wladimir Putin sahen. Ist das zu früh gefreut - oder gibt es ohnehin gar keinen Grund zu einer gewissen Freude?
Einige sahen das auch als Anfang eines Bürgerkriegs. Das kann man auch nicht wollen - das ist einfach kein Grund zur Freude, so etwas zu sehen.
Russlands Krieg in der Ukraine und der Prigoschin-Putsch: "Unmittelbare Konsequenzen nicht wahrscheinlich"
Ist Putin denn wirklich geschwächt?
Auf den Kriegsverlauf in der Ukraine haben die Geschehnisse wohl unmittelbar keine Folgen. Prigoschin hat zwar seine Leute abgezogen, aber es waren nicht so viele, wie er behauptet hat, und das hat die Frontsituation nicht verändert. Die Situation wird aber so gedeutet, dass Putin geschwächt ist. Man könnte erwarten, dass die Ukraine nun ihre Gegenoffensive verstärkt. Dass die Meuterei unmittelbare militärische Konsequenzen für den Kriegsverlauf hat, ist nicht sehr wahrscheinlich. Eher verändert sie die moralische und psychologische Situation.
Wie sieht es innerhalb Russlands aus, hat Putin an Ansehen in der Gesellschaft eingebüßt? Könnte mit diesen Ereignissen ein Sturz eingeleitet werden?
Ich glaube, etwas Genaues kann man derzeit gar nicht sagen. Nur so viel: dass da eine sehr seltsame, wirre Sache passiert ist, die von den Experten niemand vorhergesehen hat. Was wir wussten, das war, dass Putin die Geheimdienste gegeneinander ausspielt. Und dass er Privatarmeen zulässt, die auf ihn persönlich loyal eingeschworen sind, die wissen, dass sie von seiner Gunst abhängen, und untereinander um diese Gunst konkurrieren.
Sein Ziel besteht darin, die eigene Macht zu schützen durch diese bewaffneten Truppen und diese andererseits durch das Füttern von Rivalitäten in Schach zu halten. Jeder hat gewusst, dass das außer Kontrolle geraten kann. Darüber haben alle Experten gesprochen, dass man nicht weiß, ob Putin darüber noch die Kontrolle hat.
Wie geht es in Russland weiter? "Zu früh, Szenarien zu entwerfen"
Was war dann das Überraschende?
Was man nicht erwartet hat, ist, dass Prigoschin eine offene Meuterei anzettelt und versucht, aus einer Regionalhauptstadt nach Moskau vorzurücken. Er war die ganze Zeit sehr laut, etwa gegenüber der militärischen Führung, dem Verteidigungsministerium. Nun kann man sehen: Diese Konkurrenzen untereinander gibt es wirklich, und Putin hat vermutlich, zumindest zeitweise, die Kontrolle darüber verloren. Aber man sieht eben nicht, was wirklich passiert. Man weiß auch nicht, warum auf einmal der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko mit im Spiel ist.
Wer welche Rolle spielt und wer wen ausspielt und welche Rolle Putin hat – das alles weiß man derzeit nicht. Weil man keine Informationen hat – die hat im Moment niemand. Dennoch ist die Wahrnehmung, dass Putins Position geschwächt ist. Ich nehme an, dass in den nächsten Tagen irgendetwas passieren muss, mit dem er diesem Eindruck entgegentritt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Situation instabil ist und dass man in Russland nicht einfach zum vorigen Zustand zurückkehren kann. Es ist aber viel zu früh, Szenarien zu entwerfen.
Zur Rolle von Lukaschenko: Man kennt ihn als Vasall von Putin, jetzt wird er selbst zum handelnden Akteur und nimmt Prigoschin in Belarus auf. Wie passt das zusammen?
Manche behaupten, er sei nur vorgeschoben worden und die wahre Arbeit sei von anderer Seite erledigt worden. Die andere Version ist: Er und Putin sind jetzt quitt. Putin hat Lukaschenko ja quasi gerettet bei den Protesten in Belarus im Sommer 2020. Putin war damals loyal zu ihm und hat ihn finanziell unterstützt. Lukaschenkos jetziges Handeln könnte als Gegenleistung gesehen werden. Und er hätte damit an Souveränität gewonnen. Aber niemand weiß, wie es wirklich gelaufen ist.
Die Politologin und Expertin für Ostmitteleuropa und Eurasien Petra Stykow ist Professorin am Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität.
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