Politologe im AZ-Interview: "Italien könnte bankrott gehen"

Berlin - Gleich zwei richtungsweisende Entscheidungen stehen am Sonntag an: Denn neben der Bekanntgabe des SPD-Votums, dessen Ausgang über eine neue Regierungsbildung in Deutschland entscheidet, stimmen auch noch rund 51 Millionen Italiener über die Zukunft ihres Landes ab. Und damit indirekt auch über das Schicksal Europas: Das Ergebnis könnte unmittelbare Folgen haben.
AZ: Herr Maruhn, bisher wurde Italien von einer pragmatischen Mitte-Links-Regierung unter Ministerpräsident Paolo Gentiloni von der sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) geführt. Gibt es nun einen Rechtsruck?
ROMAN MARUHN: Vermutlich kommt es zum Showdown zwischen einem Mitte-Rechts-Wahlbündnis – bestehend aus Silvio Berlusconis Forza Italia, der Lega mit dem recht aufstrebenden Matteo Salvini, der sich vielleicht auch bemüht, Regierungschef zu werden, und einer kleineren Partei, Fratelli d’Italia, am äußersten rechten Rand, die quasi aus der Konkursmasse der ehemaligen neofaschistischen Partei übriggeblieben sind – sowie der Partei MoVimento 5 Stelle.
Letztere wurde 2009 als Protestpartei gegründet und gibt sich europa- und ausländerkritisch. Wie wurde die MoVimento 5 Stelle (5-Sterne-Bewegung) so erfolgreich?
Sie vereint sozusagen die Generation der Krisenverlierer. Es gibt eine große Gruppe von etwa 25- bis 40-Jährigen, die es nie geschafft haben, in ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis zu kommen. Viele von ihnen haben keine Ausbildung und arbeiten nicht. Sie leben von dem großen Solidarsystem, das es in Italien noch gibt: der Familie. Diese Gruppe hat nämlich keinen Anspruch auf Sozialhilfe. In Italien gibt es kein Hartz VI.
Als Straftäter darf Berlusconi nicht mehr kandidieren
Was versprechen sich die Wähler der 5-Sterne-Bewegung?
Sie verspricht zum Beispiel ein Bürgergeld von 780 Euro.
Die Bewegung kündigte an, regieren, aber mit keiner anderen Partei koalieren zu wollen. Warum?
Für die ist das wie das Weihwasser für den Teufel, denn sie sehen die anderen Parteien als verkommen, korrupt und überflüssig an. Es geht um alles oder nichts.
Die größte Überraschung vor der Wahl ist aber vermutlich Silvio Berlusconi, der 81-jährige Ex-Ministerpräsident und Forza-Italia-Chef, der plötzlich aus der Versenkung aufgetaucht ist. Was hat er vor?
Nach den vielen Skandalen ist Berlusconi in Italien eigentlich gar nicht mehr wählbar. Davon abgesehen, dass er aufgrund seiner Verurteilung ohnehin bis 2019 nicht für ein politisches Amt kandidieren darf ...
... wegen Steuerhinterziehung. Darüber hinaus stand er wegen eines Sexskandals vor Gericht, sein wichtigster Gehilfe wurde wegen Mafiageschäften verurteilt und 2011 musste er kurz vor dem Bankrott Italiens als Regierungschef zurücktreten. Warum hat er immer noch Erfolg?
Was in Italien tatsächlich immer noch funktioniert, ist diese Berlusconi-Begeisterung. Da geht es um den Typen. Um einen, der ab und zu anzügliche Witzchen macht, sich mit den Großen und Starken der Welt zusammentut und immer für eine Portion Glamour, Reichtum und Luxus gut ist. Der über Machtinsignien verfügt wie schöne Häuser oder Flugzeuge. Alles Dinge, die den einfachen Italiener beeindrucken.
Eigener Profit vor Gemeinwohl
Und er suggeriert potenziellen Wählern, mit seiner Partei an der Regierung ginge alles ein weniger lockerer zu.
Ja, er gibt das klassische Bild eines sehr lässigen und entspannten Politikers, der dann vielleicht auch gar nicht so viel Steuerdisziplin von seinen Wählern einfordert. Sondern im Gegenteil durch sein Verhalten und seine Äußerungen sogar dazu anregt, weniger steuerehrlich zu sein.
Ohnehin heißt es, dies sei der irrationalste Wahlkampf, den es je gab in Italien. Es werden viele finanzielle Versprechungen gemacht, die gar nicht eingehalten werden können.
Es geht dabei ganz klar um das Angebot: „Ich schiebe dir dieses Geld rüber, wenn du mich dafür wählst.“ Dazu muss man sagen, viele Italiener haben sehr wenig Vertrauen in Staat und Gemeinschaft und sehen den Zusammenhang zwischen ihrem Individuum und dem Gemeinwohl nicht. Und sagen sich: „Lieber habe ich sofort einen Profit, als dass Italiens Zukunft gesichert ist und das Land reformiert wird.“
Was das bisherige Mitte-Links-Bündnis ja durchaus versucht hat. Zahlt die Partito Democratico jetzt den Preis fürs Regieren?
Das könnte man so sagen, ja. Denn sie hat tatsächlich einige positive Sachen auf den Weg gebracht wie Arbeitslosengeld, mehr Einkommen für Geringverdiener oder eine kleine Arbeitsmarktreform. Aber so eine Politik zu machen, macht oft sehr unbeliebt. Während die Partito Democratico das bessere Angebot für den Sozialstaat macht, schafft die Forza Italia mehr finanzielle Vorteile für den einzelnen. Bei der PD geht man von einer schweren Wahlniederlage am Sonntag aus.
Woher kommt dieses Misstrauen in den Staat, in eine soziale Gemeinschaft?
Da ist auch ein großes Stück Hoffnungslosigkeit mit verbunden. Weil man dem Staat ohnehin nichts zutraut. Was sicherlich auch mit den Ermittlungen der Mailänder Staatsanwaltschaft Anfang der 90er Jahre zu tun hat. Damals kam heraus, dass fast das gesamte Parteiensystem in höchstem Maße korrupt und bestechlich war. Was dann an Politikern nachgekommen ist, ist moralisch nicht unbedingt besser. Dazu kommt: Italien ist seit der Finanzkrise 2008 durch die Hölle gegangen. Ein großer Teil der Industriekapazitäten ist damals verloren gegangen.
"Niemand könnte Italien retten, so viel Geld wäre gar nicht da"
Welche unmittelbaren Folgen hätte ein Mitte-Rechts-Bündnis für Italien?
Angesichts der finanziellen Wahlversprechen würde es wohl zu großen Unsicherheiten auf den internationalen Märkten kommen. Italien müsste viel mehr Zinsen für seine Schulden zahlen, was den Staat sofort in größte Probleme bringen würde. Die hohe Gesamtverschuldung könnte von einem Tag auf den anderen Italiens wichtigstes Thema werden und hätte auch Folgen für den nationalen Haushalt.
Warum würden die Märkte so reagieren?
Weil bislang völlig unklar ist, wie diese Wahlversprechen finanziert werden sollen und eigentlich absehbar ist, dass die Verschuldung Italiens anstatt zu sinken oder stabil zu bleiben, eher steigen würde. Und dadurch dann die Frage im Raum steht, ob Italien demnächst bankrott gehen könnte. Das führt eben dazu, dass alles wahnsinnig teuer wird.
Welche Folgen hätte das für Europa?
Es würde sich die Frage stellen: Wer sollte Italien dann retten? Klar ist: Niemand könnte Italien retten, denn so viel Geld wäre gar nicht vorhanden. Italien ist nach Griechenland das Land mit den höchsten Schulden innerhalb der EU. Gleichzeitig ist es – wenn Großbritannien aus der EU ausgetreten ist – das drittwichtigste Mitgliedsland und damit eigentlich unverzichtbar.
Berlusconi hat vorgestern seinen Kandidaten für das Ministerpräsidentenamt benannt: EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani. Die richtige Wahl in Ihren Augen?
Tajani wäre wohl eine Art Strohmann für Berlusconi und müsste mehr oder weniger tun, was Berlusconi ihm sagt. Mit Tajani könnte Berlusconi wieder einer der mächtigsten und einflussreichsten Politiker des Landes werden. Das wäre ein Ministerpräsident von Berlusconis Gnaden, sozusagen.
Die wichtigsten Parteien und mögliche Bündnisse
Aktuell wird Italien von einer pragmatischen Mitte-Links-Regierung unter Ministerpräsident Paolo Gentiloni geführt. Sie besteht aus einer Koalition der sozialdemokratischen Partito Democratico (PD, in etwa vergleichbar mit der deutschen SPD) und kleineren Zentrums- und Regionalparteien. Dass die PD erfolgreich aus der Wahl am Sonntag herausgeht, ist eher unwahrscheinlich. Experten halten folgende Möglichkeiten für realistisch:
Eine Mitte-Rechts-Allianz, die Silvio Berlusconi bereits im Vorfeld schmiedete: Eine Koalition aus Forza Italia (deren Chef Berlusconi ist), der rechtspopulistischen sowie EU- und ausländerfeindlichen Partei Lega (hieß früher Lega Nord) und der stramm rechten Partei Fratelli d’Italia („Brüder Italiens“, was zugleich der inoffizielle Titel der italienischen Nationalhymne ist). In Umfragen werden dieser Koalition bis zu 40 Prozent der Wählerstimmen zugetraut.
Eine Koalition aus PD und Forza Italia: Es heißt, Berlusconi würde eigentlich viel lieber mit der gemäßigt linken PD eine Koalition bilden als mit dem eher krawalligen Lega-Chef Matteo Salvini zu regieren. Ob die Anzahl der Wählerstimmen für eine solche Koalition ausreicht, ist jedoch unsicher.
Eine alleinregierende MoVimento 5 Stelle (M5S, „5-Sterne-Bewegung“): 2009 von Komiker Beppe Griollo als Protestbewegung gegründet, versucht die europakritische Partei nun abermals, stärkste Kraft zu werden.
Experten halten dies für möglich. Im Vorfeld hieß es, die M5S würde nur allein regieren wollen. Eine Koalition schließe sie generell aus.
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