Politikwissenschaftler Oberreuter: "Bei Laschets Demontage muss Söder nicht mitwirken"
AZ-Interview mit Heinrich Oberreuter: Der 79-jährige Politikwissenschaftler ist Direktor des Instituts für Journalistenausbildung in Passau. Zuvor lehrte er als Professor an der Universität Passau und war von 1993 bis 2011 Direktor der Akademie für Politische Bildung in Tutzing.
AZ: Herr Professor Oberreuter, CSU-Chef Markus Söder gibt sich als guter Verlierer der Bundestagswahl und scheint Armin Laschet vor sich her zu treiben. Erkennen Sie ein Ziel dieser Strategie?
Heinrich Oberreuter: Die Strategie ist, die Handlungs- und Konkurrenzfähigkeit der Union herzustellen und dabei ins Spiel zu bringen, dass die CSU trotz ihrer Verluste in einer besseren Position ist, weil sie kaum Mandate verloren hat. Für Söder ist klar, dass es nicht um die Reputation und den Interessensschutz von Laschet geht, sondern um die Politikfähigkeit des Unionslagers. Das Unterziel - psychologisch vielleicht das Oberziel - ist dabei, die eigene Handlungsfähigkeit und Gestaltungsfähigkeit zum Ausdruck zu bringen und sie vielleicht auch politisch an sich zu ziehen.

Wie Laschet demontiert wird
Viele wollen das als gezielte Demontage Laschets sehen. Tun Sie das auch?
Söder muss an der Demontage von Laschet nicht prominent mitwirken. Er hat ja die Führungskraft von Laschet auch nach dessen Nominierung immer wieder in Zweifel gezogen. Gegenwärtig organisieren sich im CDU-Lager starke Gegenkräfte und tragen dazu bei, dass die aktive Rolle von Laschet in nächster Zeit nicht stark ist, wenn sie nicht überhaupt auf den Abgrund zugeht. Das ist nicht unwahrscheinlich.
Was halten Sie von Gerüchten, dass im Hintergrund an einer Jamaika-Koalition mit Kanzler Söder gezimmert wird?
Dass an Jamaika gearbeitet wird, ist sowieso der Fall. Söder dürfte dagegen nicht den geringsten Einwand haben. Er maskiert sich in gewisser Weise, indem er den Vorrang der SPD anerkennt und - merkwürdigerweise für die Politik - das Wort "moralisch" in den Mund nimmt. Die gegenwärtige Situation hat mit Moral nichts zu tun, sondern mit der Suche nach Mehrheiten. Wenn die stärkste Partei, die SPD, diese nicht findet, sind eben andere Konstellationen denkbar. Daher spielt die Jamaika-Konstellation im Hintergrund nach wie vor eine Rolle, auch in den Gesprächen von Grünen und FDP. Solange dies so ist, wird Söder von einem hohen moralisch erhabenen Standpunkt aus bei der Bildung einer Jamaika-Koalition zugreifen. Ganz ohne Frage.
"Die Grünen könnten vor die Wahl gestellt werden"
Wie hoch schätzen Sie die Chancen für Jamaika?
Schwer zu sagen. Bestimmte Partei-Untergruppierungen bei den Grünen sprechen sich gegen Jamaika aus. Das wird aber letztendlich nicht ausschlaggebend sein, weil die FDP sich nicht in den Dienst des linken Grünen-Flügels zwingen lassen wird. Insofern könnten die Grünen vor die Wahl gestellt werden: Kompromiss oder nix. Dann könnte eine für Söder günstige Konstellation zum Tragen kommen. Im Augenblick redet darüber niemand, aber wenn gar nichts geht, schimmert am sehr, sehr fernen Horizont die Idee von Neuwahlen auf. Das hatten wir ja 2017 schon. Aber ich sehe die Situation jetzt noch nicht darauf zutreiben.
Also eher Neuwahlen als Große Koalition?
Auf jeden Fall. Eine GroKo will niemand mehr. Ohne Corona hätte die SPD die Große Koalition schon platzen lassen. Gegenwärtig spricht viel dafür, dass die Ampel kommt, aber eine Garantie dafür kann man nicht abgeben.
Was bedeutet die Wahlniederlage für die CSU? Kann Söder daraus völlig unbeschädigt hervorgehen, indem er die Verantwortung auf Laschet und die Freien Wähler abschiebt?
Er wird das versuchen und die Funktionärs-CSU wird das auch so darstellen. Das als allein gültige Interpretation zu verteidigen, wird aber nicht gelingen. Jedem ist bekannt, dass an Rolle und Kompetenz Armin Laschets bis in das Vorfeld des CSU-Parteitags hinein gezweifelt worden ist. So entschieden programmatisch und aufbruchsorientiert ist die CSU im Wahlkampf auch nicht gewesen. Sie hat aber eher als die CDU bemerkt, wie groß die Herausforderungen sind. Die durch die Bundestagskandidatur der Freien Wähler verursachten Unions-Verluste sind am schlechten Wahlergebnis mit schuld, aber es wäre auf jeden Fall schlechter gewesen als vor vier Jahren.
"Skurriles" Auftreten von Aiwanger
Muss man ernsthaft ein Platzen der "Bayern-Koalition" befürchten?
Es ist geradezu skurril, dass ein stellvertretender Ministerpräsident (Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger, d. Red.) in einer historisch schwerwiegenden Frage wie dem Kampf gegen die Pandemie diametral dem Ministerpräsidenten widerspricht, noch dazu mit nicht ganz durchdachten Argumenten. Das dürfte andernorts in Koalitionen schwerlich vorkommen. Im Grunde ist das ein Signal des Auseinandertreibens. So wie Aiwanger gegenwärtig argumentiert, beansprucht er für sich eine Art Narrenfreiheit. Es kann sein, dass die Koalition trotzdem nicht platzt, aber eine vertrauensvolle Basis der Zusammenarbeit wird es nicht mehr geben, wenn es sie denn je gab.
Was bedeutet die Bundestagswahl für die bayerische Landtagswahl 2023? Söder stellt es ja so dar, als ob das eine mit dem anderen nichts zu tun habe. Sehen Sie das auch so?
Mitnichten. In der Bundestagswahl - und auch in den Wahlen vorher - sind gesellschaftliche Entwicklungsprozesse zum Ausdruck gekommen, die nachdrücklich zeigen, dass die früher die CSU unterstützenden Milieus in Bayern wie in Deutschland am Zerbrechen sind. Daher soll man nicht so tun, als ob alte Wahlergebnisse wieder herstellbar wären oder allein von Persönlichkeiten repariert werden könnten. Söder denkt vielleicht an eine charismatische Führungsrolle à la Macron oder à la Kurz. Das ist aber auch eine abenteuerliche Vorstellung, weil dabei die Partei wegbricht und die Person über allem steht. Das scheint mir in der CSU nicht denkbar zu sein, zumal sich dort selbst Widerspruch gegen die Modernisierungslinie regt. Das wird sich in der Landtagswahl genauso ausdrücken. Der Erosionsprozess der Volksparteien erfasst auch die CSU. Sie ist da in keiner Sonderstellung, weder in Deutschland noch in Europa.