Politik-Experte über EU-Sanktionen gegen Russland: "Wir haben Putin in die Karten gespielt"

Wie schädlich sind die Sanktionen gegen Russland für den Westen? Und wie lange werden sich die USA für die Ukraine engagieren? Das sagt ein Experte.
von  Natalie Kettinger
"Jetzt bibbern wir und merken, dass die Situation für uns gefährlich wird": Der russische Präsident Wladimir Putin dreht am Gashahn: Der Staatskonzern Gazprom will ab Mittwoch nur noch 20 Prozent der möglichen Menge durch die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 liefern.
"Jetzt bibbern wir und merken, dass die Situation für uns gefährlich wird": Der russische Präsident Wladimir Putin dreht am Gashahn: Der Staatskonzern Gazprom will ab Mittwoch nur noch 20 Prozent der möglichen Menge durch die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 liefern. © IMAGO/Michel Godowitsch

AZ-Interview mit Josef Braml: Der promovierte Politikwissenschaftler (*1968) aus Regen ist USA-Experte und Autor. Sein jüngstes Buch "Die transatlantische Illusion" ist bei C.H.Beck erschienen und kostet 16,95 Euro.

Politikwissenschaftler Josef Braml
Politikwissenschaftler Josef Braml © DGAP

Durch kurzsichtige Strafmaßnahmen schaden sich westliche Staaten selbst

AZ: Herr Braml, Sie halten es für ratsam, Russland trotz des Angriffskrieges auf die Ukraine nicht komplett zu isolieren. Warum?
JOSEF BRAML: Wir dürfen uns keinen Allmachtsfantasien hingeben, der Westen kann Russland nicht isolieren. Der G7-Gipfel verdeutlichte, dass die sogenannte "Wertegemeinschaft führender Demokratien" es nicht vermochte, wichtige Schwellenländer wie Indien, Indonesien und Südafrika in ihre Allianz gegen Russland einzubinden. Denn durch ihre zwar wohlgemeinten, aber strategisch kurzsichtigen Strafmaßnahmen schaden die westlichen Staaten nicht nur dem sogenannten globalen Süden, sondern auch sich selbst. Die Realität auf den Energiemärkten sowie geopolitische Zusammenhänge verdeutlichen, dass wir am kürzeren Hebel sitzen. Jetzt, wo umgekehrt der russische Präsident Wladimir Putin damit droht, am Gashahn zu drehen, bibbern wir und merken, dass die Situation gefährlich für uns wird.

Waren die Sanktionen also ein Fehler
Mit unserem ohnehin löchrigen Öl-Embargo haben wir die Preise hochgetrieben und damit Putin in die Karten gespielt: Er musste weniger, vor allem auch an alternative Abnehmer wie Indien und China, verkaufen und hat dafür mehr eingenommen. Das hat nicht der Ukraine, sondern Russland geholfen und uns selbst geschadet. Letzteres sehen wir auch daran, dass US-Finanzministerin Janet Yellen nunmehr Druck auf uns macht, die Öl-Sanktionen nicht zu scharf zu gestalten, weil sie preis- und inflationstreibend wirken. Das hätte zur Folge, dass die US-Notenbank noch schärfer auf die Bremse treten müsste und damit auch die Wirtschaft in den USA und die Aktienmärkte noch weiter einbrechen könnten. Die Lage in vielen Entwicklungsländern, aber auch in westlichen Volkswirtschaften, ist ohnehin schon prekär; weitere kurzsichtige Maßnahmen könnten der berühmte Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt.

"Wir haben schlechte Karten, weil wir uns zu sehr abhängig gemacht haben"

Welche konkreten Gefahren sehen Sie?
Wir haben seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/8 mit Gelddrucken nur Zeit gekauft. In den USA blockieren sich Präsident und Kongress seit Jahren, Demokraten und Republikaner haben sich radikalisiert. Die Notenbank hat Geld gedruckt, um das Wachstum am Laufen zu halten. Das ging so lange ohne Inflation, so lange auf der anderen Seite ausreichend Güter vorhanden waren. In dem Moment jedoch, in dem durch Corona, die protektionistische Politik Donald Trumps und die Entfesselung des Wirtschaftskrieges mit China die Güter verknappt wurden, war klar, dass es eine Inflation geben würde. Das müssen jetzt auch die Notenbanker eingestehen, aufhören, Geld zu drucken und die Zinsen anheben. Die heiße Luft, die in die Aktienmärkte geblasen wurde, muss wieder entweichen. Durch die höheren Energiepreise und die weitere Entkopplung durch den Krieg in der Ukraine wird das Ganze noch gefährlicher.

Und welche Folgen der Energiekrise befürchten Sie für Europa?
Es gab ja Wissenschaftler, die angenommen haben, dass es maximal ein bis zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes kosten werde, wenn wir uns sofort und vollkommen von Öl und Gas aus Russland unabhängig machten. Das ist nun etwa drei Monate her, und Bundeskanzler Olaf Scholz wurde in die Ecke von Trump gestellt, weil er der Wissenschaft keinen Glauben schenkte. Nur haben einige Wissenschaftler da sehr theoretische, weltfremde Annahmen getroffen – und von besserem Sachverstand beratene Politiker sehr viel realitätsbezogener analysiert und agiert. Jetzt sehen wir ja, dass wir zwar noch nicht wirklich abgekoppelt sind von russischer Energie, die Preise aber schon steigen, und das für uns dramatische Folgen haben kann. Politiker wie Wirtschaftsminister Robert Habeck rechnen mit sozialen Verwerfungen und das nicht unbegründet.

Wenn Sanktionen der falsche Weg sind, um der russischen Aggression zu begegnen, was ist dann der richtige?
Wir haben einfach schlechte Karten, weil wir uns in den letzten Jahren zu sehr abhängig gemacht haben. In mehreren Studien – unter anderem auch der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, an denen ich mitverantwortlich zeichnete – wurde schon sehr früh darauf hingewiesen, dass die Energieabhängigkeit westlicher Nationen von autokratischen Staaten gefährlich ist. Selbst der Führer des mächtigsten Landes der Welt, US-Präsident Joe Biden, musste von seinem hohen moralischen Ross absteigen und dem saudischen Kronprinzen Mohamed bin Salman begegnen, den er eigentlich als "Paria" vor der Weltöffentlichkeit brandmarken wollte, weil dieser für den brutalen Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi und den Krieg im Jemen mitverantwortlich war. Ob Bidens Kniefall die Machthaber in Saudi-Arabien dazu bewegt hat, wieder mehr Öl zu produzieren, damit die Preise wieder gedrückt werden und so auch der innenpolitische Druck auf Biden nachlässt, bleibt indes fraglich. Die Lösung, auf die Washington wahrscheinlich dringen wird, ist: der Ukraine klarzumachen, sich mit Russland früher oder später über eine Abtretung der Krim sowie der Gebiete im Osten ins Benehmen zu setzen und über einen Neutralitätsstatus zu verhandeln.

Politik-Experte Josef Braml: "Russland wird Europas Problembleiben"

Die USA haben hinsichtlich der Unterstützung der Ukraine eine Führungsrolle übernommen. Wie lange werden sie sich noch in diesem Maße engagieren?
Angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine wirkte der Westen geschlossen wie lange nicht. Doch die innerlich angeschlagene Weltmacht USA wird sich zunehmend auf ihr nationales Interesse und die Auseinandersetzung mit China konzentrieren. Washington engagiert sich für die Ukraine, um vor allem auch wieder Stärke in Richtung Asien zu demonstrieren. Die Japaner, Südkoreaner und andere zahlen auch in Form von Zugeständnissen im Handelsbereich sehr viel für den Schutz durch die USA. Hätte Amerika jetzt ähnlich schwach ausgesehen wie etwa in Afghanistan, wäre das fatal gewesen. Insofern müssen die USA, um ihre Alliierten gegen die große Gefahr China in Asien zusammenzuhalten, auch in Europa das Nötigste tun, was Amerika nicht viel kostet: Es soll kein amerikanischer und kein Nato-Soldat für die Ukraine sterben, es werden nur Waffen geliefert, die Amerika nicht zur Kriegspartei machen. Das wird nicht für einen Sieg der Ukraine reichen, auf den hier ja viele moralisch nachvollziehbar hoffen.

Wie schauen die Menschen in Amerika eigentlich auf diesen Krieg?
Vor Kurzem konnte ich bei einem Besuch in Washington auch an einigen Strategiesitzungen der Republikaner teilnehmen. Da stand der Ukraine-Krieg keineswegs oben auf der Agenda. Nummer eins war die Auseinandersetzung um das Recht auf Abtreibung, Nummer zwei das Recht auf Waffenbesitz, dann kamen Steuern und Bildung. Die Ukraine war lediglich auf Nachfrage ein Randthema.

Und welche Positionen gibt es?
Unter den Republikanern sind einige, die ganz heftig reingehen, eine Flugverbotszone errichten und damit einen Dritten Weltkrieg riskieren wollen. Es gibt aber auch andere, die sagen: Was kümmert uns die Ukraine? Wir haben größere Probleme damit, unsere Grenze zu Mexiko zu sichern. Oder wieder welche, die sagen: Wir sind selbst Schuld an dieser Eskalation, weil wir die Nato bis an die Grenze Russlands erweitern wollten. Aber nicht nur bei den Republikanern, sondern auch bei den Demokraten werden wieder isolationistische Reflexe sichtbar.

Was sollte Europa aus dieser Krise lernen?
Russland wird Europas Problem bleiben, weil Amerika innere Schwierigkeiten hat, die es daran hindern, sich international zu engagieren. Und wenn sich die Amerikaner doch engagieren, können sie nicht beide Fronten abdecken – also Russland in Europa und China in Asien. Deshalb werden sie sich auf die Hauptgefahr China und die Zukunftsregion Asien konzentrieren. Das bedeutet für Europa: Wir müssen selbstständiger werden und uns auch ohne Unterstützung der Amerikaner verteidigen können. Vor allem im Hinblick auf die US-Wahlen 2024: Sollte Trump wiederkommen, wäre die Nato wohl nicht mehr viel wert. Deshalb sollten wir innerhalb des Bündnisses einen europäischen Verteidigungspfeiler vorantreiben. Wir sehen doch gerade, dass Russland bei Weitem nicht so friedlich ist, wie es sich viele erträumt haben.

"Es ist nicht auszuschließen, dass Trump zurückkommt", sagt Braml.
"Es ist nicht auszuschließen, dass Trump zurückkommt", sagt Braml. © IMAGO/Jefferee Woo

Wie groß ist die Bedrohung, die von China ausgeht?
Amerikanische Nachrichtendienste schließen nicht mehr aus, dass es zu einer heißen militärischen Konfrontation zwischen den USA und China kommen könnte. Doch selbst wenn es nur bei einem kalten Wirtschaftskrieg bliebe, würden die Europäer Leidtragende sein. Wir erfahren gerade, was es bedeutet, wenn wir uns von Volkswirtschaften entkoppeln müssen, von denen wir etwa durch Rohstoffe abhängig sind. Das ist mit Russland schon schwer genug für unsere Wirtschaft, aber mit China wäre es noch viel heftiger. Anders als die USA, die weitaus weniger internationale Handelsbeziehungen pflegen als die Staaten Europas, können wir uns dieses von Washington forcierte Entkoppeln oder "Friend Shoring" kaum leisten. Dass Washington nun wieder weltweit die Demokratien gegen Autokratien anführen will, ist auch deshalb fragwürdig, weil selbst die Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner sich Sorgen um die eigene Demokratie machen. Wie gesagt: Es ist nicht auszuschließen, dass Trump wiederkommt.

Das liegt auch daran, dass Joe Biden innenpolitisch extrem schwach ist. Wen könnten die Demokraten 2024 ins Rennen gegen Trump schicken, mit dem sie eine Chance auf den Wahlsieg hätten?
Da legen Sie den Finger auf einen wunden Punkt. Zunächst müsste ja jemand Joe Biden klar machen, dass er nicht mehr der aussichtsreichste Kandidat ist. So lange er selbst wieder antreten will, wird es schwierig für die Demokraten.

"Kamala Harris würde ich nicht unterschätzen"

In Vizepräsidentin Kamala Harris hatten Beobachter einst große Hoffnungen gesetzt. Nun hört man kaum noch von ihr. Wäre sie dennoch die bessere Kandidatin?
Dass sie nicht zum Zug kommt, liegt auch an Biden. Er hat ihr Portfolios zugeschustert, die einen nicht wirklich populär machen: Wenn man etwa Grenzen sichern und Einwanderer zurückweisen muss, macht man sich nicht beliebt. Biden hat ihr keinerlei Gelegenheit gegeben, ihn zu überstrahlen. Aber ich würde Kamala Harris nicht unterschätzen. Wenn sie ihre reelle Chance hätte – warum nicht? Sie wäre sicherlich besser als Biden, der oft gezeichnet und gesundheitlich angeschlagen wirkt.

Der Untersuchungsausschuss zum Sturm auf das Kapitol hat gerade eindrücklich gezeigt, wie sich Trump am 6. Januar 2021 an die Macht klammerte. Schaden ihm diese Enthüllungen denn überhaupt nicht?
Teile Amerikas haben eben eine ganz andere Wahrnehmung. Wenn Sie sich mal einem Selbstversuch unterzögen und ein Jahr lang nur Fox News schauten, hätten Sie auch eine völlig andere Wahrnehmung. Und es gibt ja noch weit heftigere Medien als Fox News.

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