Philosoph Julian Nida-Rümelin schreibt Buch über "Cancel Culture": "Ein gefundenes Fressen für die AfD"

Der renommierte Philosoph Julian Dida-Rümelin (68) war Kulturstaatsminister unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) und bis 2020 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität.
Außerdem ist der Münchner Gründungsdirektor der Humanistischen Hochschule Berlin sowie stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrates. Jetzt hat er ein Buch über "Cancel Culture" geschrieben – und die AZ hat mit ihm darüber gesprochen.
AZ: Herr Nida-Rümelin, droht tatsächlich das Ende der Aufklärung, wie Sie im Untertitel Ihres neuen Buches über "Cancel Culture" fragen?
JULIAN NIDA-RÜMELIN: Die Frage ist: Sind wir auf einem Weg, der die Grundwerte der Aufklärung gefährdet, die unsere Demokratie tragen? Ich habe die etwas irritierende These, dass "Cancel Culture" der Normalfall in der Menschheitsgeschichte ist – nicht aber die Demokratie. Sie ist ein absoluter Sonderfall. Demokratie beruht auf ganz bestimmten, sehr starken Voraussetzungen.
Zu denen gehört, dass wir unterschiedliche Meinungen aushalten und auch denjenigen mit Respekt begegnen, deren Meinungen uns nicht passen. Sogar, dass wir uns dafür einsetzen, dass Meinungen geäußert werden können, von denen wir eigentlich nicht wollen, dass sie geäußert werden. Um Voltaire zu zitieren: "Ich missbillige, was du sagst, aber würde bis auf den Tod dein Recht verteidigen, es zu sagen." Diese Kultur, die Werte der Aufklärung, dürfen wir nicht peu à peu abwracken.
Julian Dida-Rümelin: "Was in den USA passiert, ist demokratiegefährdend"
Sehen Sie diese Werte tatsächlich so extrem gefährdet?
Ja – quer durch das politische Spektrum und vor allem in den USA. Ron DeSantis hat den ganzen Staat Florida zu einer woke-freien Zone erklärt. Die Woke-Bewegung muss einem nicht gefallen, aber sie ist innerhalb der jüngeren Generation eine starke kulturelle Entwicklung. Und woke-frei heißt: Wir unterdrücken das. Da werden Hunderte Bücher aus den Schulbibliotheken entfernt, weil sie nicht ins Bild passen. Die republikanischen Aktivistinnen kritisieren Aufführungen an Schulen und Colleges. Transgender-Personen dürfen nicht in den Blick von Kindern und Jugendlichen geraten. Dabei ist Florida ein demokratischer Staat und Teil der USA.

Genau wie München Teil des demokratischen Freistaats ist - und trotzdem wurde auch hier unlängst extrem kontrovers über eine Transgender-Lesung für Kinder diskutiert.
In Deutschland ist die Entwicklung trotzdem noch vergleichsweise harmlos. Aber die Geschichte der letzten Jahrzehnte zeigt, dass kulturelle Entwicklungen in den USA nach einiger Zeit bei uns ankommen – und was dort stattfindet, ist besorgniserregend und demokratiegefährdend.
Philosoph Nida-Rümelin: "Der Eindruck, alle stehen zusammen, um die AfD zu bekämpfen, stärkt eine solche Partei"
Müssen wir auch Meinungen anderer aushalten, wenn sie demokratiefeindlich sind?
Es gibt Grenzen, die ich in dem Buch ja auch ausführlich in einem Kapitel behandle. Es ist mit "Der arco costituzionale" überschrieben. Das ist ein italienischer Begriff, der entstanden ist, als sich die Gegner des Faschismus nach dessen Ende zusammengetan und versucht haben, eine neue Demokratie aufzubauen. Nicht dabei waren Faschisten, Neo-Faschisten sowie diejenigen, die diktatorische und autoritäre Vorstellungen einer linken Politik vertraten, die Maoisten zum Beispiel. Die Euro-Kommunisten hingegen waren dabei, genau wie Liberale, Grüne, Sozialdemokraten, Konservative und auch sehr Konservative.
Was bedeutet das in Bezug auf die Gegenwart in Deutschland?
Wir haben das Problem – oder vielleicht das Glück –, dass der Rechtsausleger AfD sich gewissermaßen auf beiden Seiten dieser Grenze bewegt. Da gibt es Kräfte, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden und sich jenseits dieses Verfassungsbogens bewegen: Neonazis, die mit der Demokratie nichts am Hut haben und die Grundwerte der Verfassung ablehnen. Und dann gibt es frustrierte Konservative, die eher reden wie Franz Josef Strauß oder Alfred Dregger in den 1980er Jahren. Die sollte man nicht als Neonazis beschimpfen – und vor allem nicht ihre Wähler, die laut Umfragen zu zwei Dritteln nicht wirklich rechts, sondern ebenfalls frustriert sind. Diese Wähler sollte man ansprechen.
Im Landtag kommt es vor, dass Mitglieder anderer Parteien den Saal verlassen, wenn AfD-Abgeordnete reden. Wie bewerten Sie das?
Wenn die Haltung ist, wann immer ein AfD-Redner ans Pult geht, den Raum zu verlassen, oder wenn Podien AfD-Politikerinnen und -Politiker umfassen, nicht teilzunehmen, dann ist das ein Konjunkturprogramm für die AfD. Das ist in Italien getestet worden. Die Partei von Giorgia Meloni war die einzige von Belang, die sich der Allparteienregierung unter Mario Draghi nicht angeschlossen hat. Und was ist das Ergebnis? Sie ist jetzt Ministerpräsidentin. Aus solchen Vorgängen sollte man lernen. Wenn der Eindruck entsteht, alle anderen sind sich im Wesentlichen einig, und stehen zusammen, um die AfD zu bekämpfen, dann stärkt das eine solche Partei. Siehe Meloni: Ihre "Fratelli d'Italia" sind von acht oder neun Prozent auf 26 hochgeschossen.

Auseinandersetzung mit der AfD: "Eine Einheitssoße halte ich für gefährlich"
Das heißt, die parteiübergreifende Ablehnung der AfD dürfte ein Grund für ihren aktuellen Höhenflug sein?
Wenn in manchen Landtagen Allparteienkoalitionen erzwungen werden, um die AfD zu verhindern, ist das für sie natürlich ein gefundenes Fressen. Dann kann sie sich so inszenieren, wie sie es möchte: Die anderen sind sowieso alle gleich, alle stehen für das System und Fehlentwicklungen in Deutschland – und wir sind die einzigen Aufrechten, die das kritisieren. Deshalb brauchen wir die politische Auseinandersetzung im demokratischen Spektrum, das Ringen um den richtigen Weg. Eine Einheitssoße halte ich für gefährlich.
Was, wenn sich eine Seite der politischen Auseinandersetzung verweigert?
Ich plädiere für Diskurs und faire Auseinandersetzung um Positionen – soweit es geht. Es hat jedoch keinen Sinn, sich mit Neonazis zu unterhalten, weil sie die Grundwerte der Demokratie nicht teilen. Man kann mit ihnen keine Verständigung erreichen. Ansonsten muss man diesen Bogen jedoch so weit wie möglich spannen. Sonst geht die Demokratie vor die Hunde.
Wo stehen Sie in der Diskussion um eine Zusammenarbeit mit der AfD auf kommunaler Ebene, die nach den Äußerungen von CDU-Chef Friedrich Merz entbrannt ist?
Ein Teil der Auseinandersetzung ist offenbar ein Machtkampf innerhalb der CDU, der uns außerhalb der CDU nicht so wahnsinnig interessieren muss. Sachlich gesehen müsste man erst einmal definieren, was Kooperation überhaupt bedeutet. Nehmen wir an, im Rat wird über die Einrichtung einer Umgehungsstraße abgestimmt und die AfD-Mitglieder sind dafür. Dürfen CDU-Mitglieder dann auch dafür sein? Natürlich. Es geht in einem Rat doch darum, Entscheidungen zum Wohle der Stadt zu treffen.

"Wenn es nur noch um Parteizugehörigkeiten geht, finde ich das unwürdig für ein Parlament"
Das lief und läuft aber keineswegs immer so.
Nein. Im Landtag hat die SPD über Jahrzehnte oft gute Vorschläge unterbreitet. Die CSU hat alle abgelehnt und Monate später einen Antrag eingebracht, der ungefähr genauso klang. Aber wenn überpolitisiert wird und es nur noch um Parteizugehörigkeiten geht, finde ich das unwürdig für ein Parlament. Wir versuchen doch herauszufinden, was für uns gut ist.
Die Demokratie hat ihre Stärke dort, wo wir um den richtigen Weg ringen. Wenn das alles war, was Merz uns sagen wollte, hat er es vielleicht unglücklich formuliert, aber es wäre nicht skandalös. Wenn das allerdings ein Hintertürchen war, um von unten nach oben Kooperationen zwischen Union und AfD vorzubereiten – in Finnland, Schweden, Italien, Ungarn und Polen ist es ja bereits der Fall, dass die Konservativen mit den Rechten zusammen Politik machen und ihre neuen Mehrheiten gegebenenfalls brutal ausnutzen –, dann ist es ein riesiger Skandal.
Ein anderes Thema, das derzeit die Gemüter erhitzt: Aus dem Foyer der Europa-Universität Flensburg wurde unlängst die Statue der nackten "Primavera" entfernt, weil sie Frauen angeblich auf ihre Gebärfähigkeit reduziert. Ist das auch "Cancel Culture"?
Eigentlich nicht. "Cancel Culture" ist die Unterdrückung einer Meinung oder einer Person, die eine Meinung hat, oder gar das Ausgrenzen der Person bis hin zu ihrem sozialen und beruflichen Existenzende. So definiere ich die drei Eskalationsstufen von "Cancel Culture". Die Auseinandersetzung um gendergerechte Sprache oder Empfindsamkeiten verschiedenster Art, die jetzt als Identitätspolitik aus den USA zu uns herüberschwappen, gehören nicht dazu. Ein rücksichtsvoller Umgang miteinander ist wichtig, aber eine ganz andere Baustelle. Im aktuellen Fall muss man sich allerdings fragen, warum die Hochschulleitung sofort so ängstlich reagiert hat und die Plastik verschwinden ließ. Vernünftiger wäre es doch gewesen, über Kunst zu diskutieren.
Der Punkt ist doch, dass jedes Kunstwerk immer vieles vermittelt, was einem gefällt oder auch nicht. Alle Kunst aus der italienischen Renaissance, die wir in Florenz oder anderen italienischen Städten bewundern, sind Werke ihrer Zeit mit ihren bestimmten Vorstellungen von Männlichkeit, von Weiblichkeit, von Über- und Unterordnung. Verstört uns das – und deswegen muss die ganze Kunst weg? Das wäre ein fürchterlicher Verlust für die Menschheit. Der richtige Ansatz ist, sich damit auseinanderzusetzen, anstatt die Dinge aus dem Blick zu schaffen. Deshalb gehöre ich auch zu denjenigen, die es skeptisch sehen, wenn man die baulichen Überreste der NS-Zeit übertüncht oder verschwinden lässt. Denn das gehört leider auch zu unserer Geschichte.

Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat bei der Eröffnung der Salzburger Festspiele gefordert: "Bringen Sie Ihre Blase zum Platzen! Reden Sie mit Leuten, die Sie nicht kennen. Die nicht zu 'Ihrer Gruppe' gehören. Fragen Sie Ihren Nachbarn, was er beruflich macht. Besuchen Sie einmal die benachbarte Blase. Followen Sie den Menschen, denen Sie nicht folgen würden." Hat er Ihnen damit aus der Seele gesprochen?
Das gefällt mir sehr gut – und es wundert mich nicht. Er ist ein sehr intelligenter Mann.
Julian Nida-Rümelin: "Cancel Culture – Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken" ist bei Piper erschienen und kostet 24 Euro.