Peter R. Neumann über Russland- und Chinapolitik: "Das war ein Fehler"

AZ-Interview mit Peter R. Neumann: Der Würzburger (*1974) ist Professor für Sicherheitsstudien am King's College London.

AZ: Herr Neumann, das autokratische Russland hat die Ukraine überfallen, in Schweden werden Neonazis zu Königsmachern, in Italien ist eine Postfaschistin auf dem Weg zur Ministerpräsidentin und in den USA heißt der nächste Präsident womöglich wieder Donald Trump. Ist die Idee der liberalen, demokratischen Moderne gescheitert?
PETER R. NEUMANN: Sie ist unter Druck. Das Gefährliche an diesen Populisten ist, dass ihr Geschäftsmodell darin besteht, Gesellschaften zu spalten. Diese Spaltung ist ihr Lebenselixier - und so schwächen sie die Gesellschaft von innen. Die USA sind das wichtigste und dramatischste Beispiel. Das Vermächtnis von Donald Trump sind weniger Gesetze, die er verabschiedet hat. Vielleicht sind es die sehr konservativen Verfassungsrichter, die von ihm berufen wurden. Aber vor allem ist es die Tatsache, dass er als erster Präsident in der Geschichte eine demokratische Wahl, die er verloren hat, nicht anerkennt - und dass bis heute 80 Prozent der republikanischen Wähler glauben, dass Joe Biden illegitim ist. Wenn das ein Drittel der Bevölkerung von der aktuellen Regierung glaubt, kann das ein politisches System nicht lange aushalten. Das ist ein erheblicher Druck, der es westlichen Staaten auch schwieriger macht, in Bezug auf äußere Herausforderungen wie Putin oder China eine geschlossene Front zu zeigen.
Wie konnte es so weit kommen? Als der Politologe Francis Fukuyama nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion das "Ende der Geschichte" verkündete, schien der Siegeszug des westlichen Wertemodells doch nicht mehr aufzuhalten zu sein.
In den 1990ern waren wir ziemlich naiv. Viele gingen davon aus, dass unser System dermaßen überzeugend ist, dass es zum Selbstläufer wird und sich von alleine ausbreitet. Zur Naivität kam eine gewisse Überheblichkeit. Speziell nach dem 11. September 2001 haben wir gedacht, wir könnten die Leute zum Guten zwingen, haben die Demokratie zum Teil mit militärischer Gewalt verbreitet. Aus Afghanistan sollte ein zweites Schweden werden - innerhalb kürzester Zeit. Wobei die Ambitionen in keinem Verhältnis zu den eingesetzten Mitteln standen. Wir haben an Afghanistan gerade mal ein Fünfundzwanzigstel der Aufbauhilfe für den Kosovo gezahlt, dabei hat es 20 Mal mehr Einwohner.
Als Wladimir Putin im September 2001 im Bundestag sprach, bekannte er sich noch zum Aufbau einer "demokratischen Gesellschaft" und gab sich als Freund des Westens. Geschichte. Was hat diesen Gesinnungswandel verursacht?
Ich glaube, dass Putin in den 2000er Jahren noch relativ unentschieden war. Es lief gut für ihn. Die Ölpreise haben dafür gesorgt, dass es mit der Wirtschaft bergauf ging. Er war beliebt bei der Bevölkerung und hatte überhaupt keinen Grund, den großen Nationalisten zu geben. Erst als die Wirtschaft in Probleme geriet, brauchte er eine neue Rechtfertigung für sich im Amt. Gleichzeitig hat er seine eigene Propaganda geglaubt. Nämlich, dass der Westen ihn umzingelt. Beim Arabischen Frühling sind die Leute für die Demokratie auf die Straße gegangen - und es schien, als wolle Amerika sie überall verbreiten. Putin sah das als eine Bedrohung für seine eigene Herrschaft.
"China hat die Anti-G7 gegründet - mit Putin und jetzt auch Iran"
Welche Rolle spielte der Einsatz in Libyen für das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen?
Nicht nur, dass es ein riesiger Reinfall war, bei dem sich Nicolas Sarkozy als Verbreiter der Demokratie einen Namen machen wollte. Die Überzeugung, dass man in einem Land, das man überhaupt nicht kennt, das 40 Jahre lang von einem Diktator ausgehöhlt wurde, in dem keine Zivilgesellschaft existiert, einfach ein paar Bomben abwirft und über Nacht entsteht eine Demokratie, ist ein weiteres Beispiel für Naivität und Überheblichkeit. Was Russland angeht: Es gab eine UN-Sicherheitsrats-Resolution, den Menschen, die direkt durch Gaddafi bedroht waren, humanitäre Hilfe zu leisten - aber nicht für einen Regimewechsel. Das hat man ab einem gewissen Punkt wahrscheinlich absichtlich missachtet und die Resolution so ausgelegt, dass die Leute wohl nie vor Gaddafi sicher sein werden und es deshalb einen Regimewechsel geben muss. Darüber hat sich Russland sehr geärgert und dem Westen vorgeworfen, die Resolution zu missbrauchen, um die Demokratie zu exportieren. Die Folge war, dass Moskau etwa in Bezug auf Syrien durch sein Veto Resolutionen blockiert hat. Da ging viel an Vertrauen verloren.
Nicht nur der US-Politikwissenschaftler John Mearsheimer ist der Ansicht, dass der Westen Schuld ist an Putins "Radikalisierung", weil er Russland vor allem durch die Nato-Osterweiterung immer mehr "eingekesselt" und damit seine Sicherheitsinteressen missachtet hat. Teilen Sie diese Analyse?
Das ist nur ein Teil der Wahrheit. In seinem eigenen Kopf hat sich Putin wahrscheinlich angezählt gefühlt. Aber der Westen hat doch nicht wirklich vorgehabt, Russland anzugreifen. Und natürlich sind die Ukraine oder Estland, Lettland und Litauen souveräne Staaten, die selbst entscheiden können, zu welchem Bündnis sie gehören wollen. In der Ukraine gab es seit den 1990ern immer große Mehrheiten für den Beitritt zu EU und Nato. Russland hat das nie akzeptiert, weil - und das ist das Problem mit Mearsheimers Argument - die Russen nicht anerkennen, dass die Ukraine ein eigenständiger Staat ist.
Warum hat der Ansatz "Wandel durch Handel" im Fall Russlands nicht funktioniert?
Weil das auch eine dieser naiven liberalen Annahmen ist, die auf der Auffassung beruht, dass unsere Werte so überzeugend sind, dass jeder, der mit ihnen in Kontakt kommt, sofort zum Westler wird: Wenn die Chinesen Starbucks haben, werden sie wie Amerikaner. Das ist falsch, hat in Bezug auf Russland nicht funktioniert - und auch nicht in Bezug auf China. Seit den 1990ern wird darüber geschrieben, dass wir nur mehr mit China handeln müssen, dann wird das Land schon zur Demokratie. Tatsächlich ist das System trotzdem immer repressiver geworden. Das Gegenteil unserer Erwartungen ist eingetreten - genau wie bei Russland: Nicht Russland ist von uns abhängig geworden, sondern wir von ihm. Man hat einfach geglaubt, dass Putin das schon nicht ausnutzen würde. Eine Annahme, die jetzt speziell für Deutschland große Probleme schafft.
Sie haben China angesprochen. Welche Gefahr sehen Sie in diesem erstarkenden Riesen?
China ist die aufsteigende Macht des 21. Jahrhunderts. In den letzten 20 Jahren sind dort 400 Millionen Menschen aus der Armut herausgekommen. Diese Leute haben zum ersten Mal eine Wohnung, eine Zentralheizung und können ihre Kinder zur Uni schicken. Diese Menschen, die in ihrer gesamten Familiengeschichte erstmals eine Mittelklasse-Existenz führen, sind genau die, von denen wir stets angenommen haben, dass sie die Demokratie bringen. Trotz aller aktueller Probleme: Im Moment sind genau sie noch ziemlich dankbar und zufrieden. Das ist die Basis für den Aufstieg Chinas auf internationaler Ebene. Und anders als der Westen gehen die Chinesen nach Afrika und Asien. Nicht, um irgendwen zu befreien oder ihre Ideologie zu exportieren, sondern um zu investieren. Sie bieten lediglich an, zu erklären, wie ihr Aufschwung funktioniert hat, ganz soft. Deshalb besteht in den meisten Ländern Afrikas jetzt eine sehr enge Beziehung mit China - und nicht mehr mit dem Westen.
Bedeutet das, über kurz oder lang wird die autoritäre Moderne Chinas die liberale des Westens ablösen?
Es wird zumindest eine Konkurrenz geben. Das Problem ist, dass der Westen auf diesen Vormarsch noch keine Antwort hat. Zumal er - global betrachtet - in Bezug auf Bevölkerung und Wirtschaftsmacht immer kleiner wird. Es wird also zunehmend unplausibler, dass genau unser Modell das Modell der ganzen Welt sein soll. Auf die Idee, dass wir ein neues Regelsystem finden müssen, das China integriert, sind wir bislang nicht gekommen.
"Wir müssen weniger naiv sein - und weniger arrogant"
Wie könnte ein solches System aussehen?
Beispiel G7. Diese Gruppe wurde in den 1970ern gegründet. Damals waren die sieben Mitglieder - Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, Großbritannien und die USA - die größten Industrienationen der Welt. Heute stimmt das nicht mehr. Man hätte China längst aufnehmen müssen. Man tat es nicht, weil es keine Demokratie ist. Deshalb hat China seine eigene G7 gegründet: die Shanghai Kooperationsorganisation, die nach chinesischem Muster die Welt bestimmen möchte, die Anti-G7 mit Putin und jetzt auch dem Iran. Das war ein Fehler.
Gerade haben sich Xi Jinping und Putin in diesem Rahmen ihre Zusammenarbeit und Unterstützung versichert. Wie bedenklich ist diese Allianz?
Schon bedenklich. Aber was bei diesem öffentlichen Termin auch ganz klar geworden ist: Putin ist der Juniorpartner. Er ist derjenige, der die Beziehung zu China unbedingt braucht, weil ihm seine Rohstoffe im Westen nicht mehr abgekauft werden, und weil er politisch wie militärisch Pekings Unterstützung benötigt. China ist in dieser Beziehung ganz klar der Chef. Deshalb musste Putin ja auch Abbitte leisten und eingestehen, dass er versteht, dass die Chinesen Probleme damit haben, wie Russland in der Ukraine Krieg führt. Das ist für Russland langfristig eine demütigende Position. Entweder ist es Bittsteller beim Westen - oder bei den Chinesen.
Und China?
Beobachtet den Konflikt sehr genau, unterstützt Russland soft aber nicht enthusiastisch, auch ein bisschen militärisch, und sagt sich: Ist doch wunderschön, wenn der Westen die nächsten zehn oder 15 Jahre mit der Ukraine zu tun hat - genau so, wie er 20 Jahre lang im Nahen Osten versumpft ist -, seine ganze politische Aufmerksamkeit, Ressourcen wie Soldaten dort verbrennt, und wir im stillen Kämmerlein weiter an unserer Weltmachtrolle bauen. Der Unterschied zwischen Russland und China ist doch: Russland ist aggressiv, aber nicht attraktiv. Es ist kein Systemkonkurrent, weil es zwar Instabilität und Konflikte befeuern kann, aber letztlich kein Gesellschaftsmodell hat, das Leute attraktiv finden. Es ist ein kaputtes Land. China hingegen finden wir im Westen zwar nicht attraktiv - aber viele Menschen in Afrika und Asien sehen das anders.
Das klingt, als würden Sie nicht daran glauben, dass die Rückeroberungen, die die Ukraine aktuell meldet, der Anfang von Putins Ende ist - oder wie Fukuyama sagt, die "Wiedergeburt der Freiheit".
Ich bin da sehr skeptisch. Es ist richtig, die Ukraine zu unterstützen. Aber nicht, weil es ein Kampf der Demokratie gegen das Autoritäre ist - in Sachen Demokratisierung gibt es in der Ukraine noch einiges zu tun -, sondern weil die Invasion der Russen ein Bruch der Europäischen Sicherheitsordnung war. Wir haben uns nach dem Krieg alle darauf geeinigt, dass wir unsere Grenzen respektieren und es nicht akzeptabel ist, wenn die Souveränität von Staaten infrage gestellt wird - egal, ob sie demokratisch oder autoritär sind. Genau dagegen hat Russland verstoßen. Deshalb ist es richtig, denjenigen zu helfen, die zum Opfer der Aggression geworden sind und dem Aggressor zu zeigen, dass sein Verhalten Konsequenzen hat.
Wie ließe sich die liberale Moderne bewahren?
Wir müssen analysieren: Wie kann es sein, dass wir 1990 noch geglaubt haben, wir wären unschlagbar - und eine Generation später bricht das ganze System zusammen? War der Westen, historisch betrachtet, wirklich nur ein kleines Aufflackern? Um das zu verhindern, müssen wir weniger naiv, weniger arrogant, bescheidener und ehrlicher zu uns selbst sein. Uns muss klar sein, dass Andere uns nicht unbedingt als ebenso toll wahrnehmen wie wir uns selbst. Und vor allem: Wenn wir unsere Werte verbreiten wollen, müssen wir auch die dafür notwendigen Mittel einsetzen - siehe Afghanistan. Wir müssen Interessen und Ideen in Einklang miteinander bringen. Und das bedeutet, dass man fokussiertere Entscheidungen darüber trifft, wo man auf unsere Werte setzt. Was ist denn die Konsequenz daraus, wenn Frau Baerbock die Unterdrückung der Uiguren anprangert? Dass wir Sanktionen gegen China verhängen? Dass wir das Militär hinschicken? Das sind Worte ohne Konsequenz. Wenn wir die Demokratie verbreiten wollen, sollten wir uns auf Orte konzentrieren, an denen das möglich ist.
"Vielleicht ist der Westen doch noch zu retten"
Ist Olaf Scholz' Zeitenwende ein Schritt in die richtige Richtung?
Ich denke schon, dass sich gerade etwas in die richtige Richtung verändert. Erstmals akzeptieren die Leute in Deutschland, dass Sicherheit wichtig ist, dass auch wir eine funktionstüchtige Armee brauchen, dass man dafür Geld in die Hand nehmen muss, und dass es Situationen geben kann, in denen man in einem Krieg die angegriffene Seite unterstützen muss. Das war vor einem Jahr noch nicht so. Ein weiterer Schritt wäre, zu begreifen, dass man in einer Welt, in der ein großer autoritärer Staat wie China immer wichtiger wird, dafür sorgen muss, dass die westlichen Werte nicht untergraben werden.
Wie soll das gehen?
Der Westen - also Europa plus Nordamerika - muss China als Einheit gegenübertreten. Aber das ist natürlich leichter gesagt als getan und erfordert viel politische Anstrengung.

Der Krieg in der Ukraine hat zu einem vergleichbaren Zusammenschluss geführt.
Was gut ist - und womit vor einem Jahr ebenfalls noch niemand gerechnet hätte. Auch Putin nicht. Seine Kalkulation war, dass es niemals zu einer geeinten Antwort des Westens auf den Krieg gegen die Ukrainer kommen würde. Er glaubte, er könne alle gegeneinander ausspielen. Doch genau das ist ihm nicht gelungen. Und das ist ein gutes Zeichen dafür, dass der Westen vielleicht doch noch zu retten ist.