Olaf Scholz übernimmt: Kanzler ohne Schonzeit
Olaf Scholz ist dafür bekannt, dass er mit leiser Stimme spricht. Doch als er gestern um 10.20 Uhr von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (beide SPD) gefragt wird, ob er die Wahl zum Bundeskanzler annehme, legt er die schwarze FFP2-Maske ab, lässt das Mikrofon beiseite, und antwortet laut und deutlich: "Ja".
395 Abgeordnete haben ihm vorher ihre Stimmen gegeben, 21 weniger, als die Koalition Stimmen hat. Einige Abgeordnete sind krank und deshalb nicht da, außerdem hat es auch bei früheren Kanzlerwahlen immer wieder Abweichler in den Koalitionsreihen gegeben. Kein Grund zur Sorge also für den frisch gewählten Kanzler.
Nach der Wahl geht es ins Schloss Bellevue, wo Scholz von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) die Ernennungsurkunde erhält.
Um Punkt 12 Uhr nimmt der 63-Jährige wieder im Bundestag Platz. Es scheint, als erkundige er sich kurz, wo er sitzen soll. Dann geht er zu den blauen Stühlen der Regierungsbank, zum Kanzlerplatz. Als er sich setzt, ist er dort ganz alleine, ein einsamer Kanzler noch ohne Kabinett. Die Ministerinnen und Minister sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht ernannt. Den folgenden Amtseid spricht Scholz ohne den Glaubenszusatz "so wahr mir Gott helfe". Er ist zwar evangelisch getauft, aber aus der Kirche ausgetreten.
Die erste Ampelkoalition auf Bundesebene ist mit dem Votum im Bundestag endgültig besiegelt. Deutschland hat zweieinhalb Monate nach der Bundestagswahl wieder eine Regierung ohne den Zusatz "geschäftsführend". Für den historischen Moment hebt Parlamentspräsidentin Bas vor Verkündung des Wahlergebnisses sogar das Foto-Verbot für Abgeordnete auf. "Damit ich nicht 736 Ordnungsrufe machen muss, erlaube ich gleich allen für diesen Tag, allen Abgeordneten, zu fotografieren", sagt sie. "Aber bitte diskret."
Aus allen Fraktionen außer von der AfD erhält Scholz Applaus. Er bekommt Blumen und vom Bundestagsabgeordneten des Südschleswigschen Wählerverbandes, Stefan Seidler, einen Korb mit Bio-Äpfeln. Auch der unterlegene Unionskandidat Armin Laschet gratuliert.
Von den Besuchertribünen gibt es ebenfalls Beifall. Auf der einen sitzen Scholz' Eltern, seine Frau Britta Ernst, und der einzige noch lebende SPD-Altkanzler Gerhard Schröder mit seiner Frau Soyeon Schröder-Kim in der ersten Reihe. Der Vater erzählt später, sein Sohn habe schon mit etwa zwölf Jahren den Berufswunsch Bundeskanzler gehabt. "Er hat sich dieses Ziel sehr früh gesetzt, da war er noch Schüler", sagt der 86-Jährige. Dass Olaf es jetzt geworden sei, löse bei ihm ein "Glücksgefühl" aus.
Auf der anderen Tribüne sitzt Noch-Kanzlerin Angela Merkel, eingerahmt vom früheren Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (beide CDU) und Altbundespräsident Joachim Gauck. Als das Ergebnis verkündet wird, zeigt sie - typisch Merkel - noch einmal die Raute. Mit ein wenig Verzögerung erhebt sie sich, fängt an zu klatschen. Es sind die letzten Momente einer 16-jährigen Ära.
Merkel geht, ihr Stil aber bleibt. Scholz, der vier Jahre als Vizekanzler mit ihr zusammengearbeitet hat, nimmt das Merkelsche Erfolgsrezept mit in die neue Regierung: solides Management statt Spektakel.
Zunächst einmal wird es für den Kanzler um die faktischen Zwänge gehen. Er übernimmt die Regierung mitten in einer Krise, wie sie die Republik noch nicht gesehen hat. Die Corona-Infektionszahlen halten sich auf Rekordniveau, in einigen Regionen Deutschlands ist die Lage in den Krankenhäusern dramatisch.
Bundespräsident Steinmeier erinnerte die Ampel-Koalition an ihre außenpolitische Verantwortung. "Die Welt schaut auf unser Land. Die Erwartungen an Deutschland sind groß. Unsere Verlässlichkeit und unser Einstehen für Regeln und Zusammenarbeit, für die liberale Demokratie und für das vereinte Europa, für den Frieden und unsere Sicherheit im Bündnis, all das wird Ihnen viel Zeit und Mühe abverlangen."
Normalerweise sagt man, eine neue Regierung habe eine Schonfrist: 100 Tage zum Eingewöhnen und Ausprobieren, für erste Entscheidungen, Programme und Projekte. Eine Zeit, in der Beobachter sich mit Bewertungen noch zurückhalten. Für Scholz war es umgekehrt. Seine Schonzeit endete eigentlich schon 48 Tage vor der Kanzlerwahl, an dem Tag, an dem die Koalitionsverhandlungen begannen und klar war: SPD, Grüne und FDP meinen es ernst mit der ersten Ampel-Bundesregierung.