Notstand an Grundschulen: Braucht es Rechtschreibregeln?

Seit Jahren regen sich die Eltern der Grundschüler darüber auf. Schuld am schlechten Schreiben wird vor allem einer Lernmethode angelastet – es gibt andere Gründe.
von  Dorothea Hülsmeier
Deutsche Sprache – schwere Sprache? Viele Eltern beklagen, dass ihre Kinder in der Grundschule das Schreiben nicht mehr richtig lernen.
Deutsche Sprache – schwere Sprache? Viele Eltern beklagen, dass ihre Kinder in der Grundschule das Schreiben nicht mehr richtig lernen. © Jens Kalaene/dpa

"Fata", "Hunt" und "Mama, ich hap dich lip" – wenn Grundschüler so drauflos schreiben, dann kocht bei vielen Eltern die Wut hoch. "Lesen durch Schreiben" heißt die Methode, die allgemein zum Sündenbock für das sinkende Rechtschreibniveau geworden ist. Das umstrittene Konzept des Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen (1939-2009) aus den 1980er Jahren steht inzwischen in vielen Bundesländern auf dem Index. Jahrelang sollten ABC-Schützen nach dieser Methode anfangs nach Gehör schreiben, ohne von Lehrern oder Eltern korrigiert zu werden.

Viele Grundschüler erfüllen bei Rechtscheibung nicht die Mindeststandarts

Nordrhein-Westfalens Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) verordnete den Grundschullehrern eine Handreichung, die die wilden Anfangsschreibversuche der Schüler wieder einfangen soll: "Die Regeln der deutschen Rechtschreibung können und müssen von der ersten Klasse an gelernt werden." Mehr als jeder fünfte deutsche Viertklässler erfüllt bei Rechtschreibung laut einer Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) die Mindeststandards nicht.

In Bayern und Baden-Württemberg, in Hamburg und Schleswig-Holstein sowie in den meisten Ost-Bundesländern kommt "Lesen durch Schreiben" nicht zum Einsatz. Bestätigt fühlen sich die Kritiker durch eine Bonner Studie, wonach Grundschüler Orthografie am besten nach der klassischen Fibelmethode lernen, also erst Buchstabe für Buchstabe und dann Wörter.

Ganz so einfach ist es aber nicht. Denn nur zwei bis drei Prozent der Grundschulen wenden bundesweit die Methode des Schreibens nach Gehör in Reinform an, so die Schätzungen. "Das ist so ein Schlagwort, aber nicht die Unterrichtsrealität", sagt Anne Deimel vom Verband Bildung und Erziehung (VBE).

"Lesen durch Schreiben" wird kaum praktiziert

Das reine "Lesen durch Schreiben" nach der Reichen-Methode werde kaum praktiziert. Deimel ist selbst Grundschullehrerin. Lehrkräfte ließen die Kinder beim Erlernen der Rechtschreibung nicht allein, betont sie. Der richtige Methodenmix sei der Schlüssel zum richtigen Schreiben. "Nicht für jedes Kind ist jeder Ansatz gleich gut", sagt Deimel.

In der dritten Klasse einer Düsseldorfer Grundschule schreiben die Kinder fast fehlerlos. "Pitza" statt "Pizza" ist einer der wenigen Fehler. Lehrerin Monika L. (58) ist seit fast 30 Jahren im Schuldienst und hat sogar noch das Heft mit Reichens Methode in ihrem Bücherschrank. In einem gibt sie Reichen zumindest ein bisschen Recht: "Wenn ich nicht nach Gehör arbeite, lerne ich gar nichts." Problematisch werde es aber, wenn es kein Korrektiv gebe. Nie wäre L. auf die Idee gekommen, die Schüler nicht zu korrigieren.

Bei der Rechtschreibung kommt es auf den Lehrer an

Dass dies oft zu spät geschehe, sieht Hanna Sauerborn, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben, als eines der Hauptprobleme. "Es hat sich im Fach Deutsch die absurde Haltung eingebürgert, Fehler nicht mehr von Anfang an zu verbessern", moniert sie. In Mathe würden Fehler ja auch korrigiert. Der Grund für sinkende Rechtschreibleistung sei aber nicht allein die die Reichen-Methode, meint Sauerborn. "Sie werden ein so komplexes Bedingungsgefüge nicht auf einen Faktor reduzieren können." Zu heterogen seien die Klassen heutzutage. Letztlich komme es immer auf den Lehrer an.

Auch der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, räumt ein: "Die abfallenden Rechtschreibleistungen beobachten wir nicht nur in den Ländern, die stark auf die Lesen-durch-Schreiben-Methode gesetzt haben." Auch in den Ost-Bundesländern, wo die Methode nie verbreitet war, sinke das Niveau. "Es ist ein ganzes Bündel von Ursachen."

So spiele das zusammenhängende Lesen nur noch eine geringere Rolle bei Kindern. "Sie lesen halt keine Bücher mehr", sagt Meidinger. Stattdessen würden täglich Hunderte Kurznachrichten gelesen. "In sozialen Netzwerken spielt die Rechtschreibung keine Rolle." Lehrer gäben inzwischen die Rückmeldung, dass Schüler Quellentexte oder literarische Texte nicht mehr verstehen.

Auch Bildungsforscher Hans Brügelmann sieht viele Ursachen. "Seit Jahrzehnten wird über die Rechtschreibkatastrophe geklagt", sagt er. "Schon frühere Studien haben immer wieder schlechte Rechtschreibleistungen erbracht." Relativieren will er nichts. "Aber die Illusion, wenn wir wieder so unterrichten würden wie früher, dann hätten wir das Problem nicht, die müssen wir uns abschminken."

AZ-Umfrage: Braucht es Rechtschreibregeln - oder soll jeder schreiben wie er mag?

Anna N. (28), Arbeitssuchende: "Es gibt Sprachen, bei denen es auch ohne Regeln funktioniert – beispielsweise Syrisch. Ständiges Ändern von Regeln kann zu Verwirrung beitragen. Schade, wenn man aus Rechtschreibung ein Problem macht."

Norbert G. (74), Brandmeister: "Es braucht die Rechtschreibung, so wie ich sie gelernt habe. Selbstverständlich sind Regeln nötig. Mich ärgert die Anglisierung der Sprache, zum Beispiel, wenn meine Tochter davon spricht, dass alles supi ist."

Marcel S. (28), Technischer Zeichner: "Ich denke schon, dass es noch Regeln braucht. Für mich steht fest: Ohne Regeln verliert alles an Wert – warum sonst sollte man dann zur Schule gehen? Bei Whatsapp dagegen sind Vorschriften zweitrangig."

Heike G. (63), Rentnerin: "Es wäre ein großes Durcheinander, wenn es keine Regeln mehr gäbe. An sich sind Rechtschreibregeln doch einfach zu erlernen – daher verstehe ich nicht, weshalb man darauf verzichten sollte. "

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