Neuer Krisenherd in Europa? Experte aus München erklärt Putins Strategie in Moldaus Separatistengebiet
München – In einem der ärmsten Länder Europas kocht ein jahrzehntealter Konflikt hoch und spitzt sich zu. Nur 70 Kilometer trennen Moldaus Hauptstadt Chisinau von der Metropolregion um Tiraspol an der ukrainischen Grenze. Doch politisch scheinen die zwei Orte Tausende Kilometer auseinander zu liegen.
Während viele Einwohner in großen Teilen des Landes auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union hoffen, strecken andere im international nicht anerkannten Transnistrien, einem abtrünnigen Landesteil, der unter Kontrolle von prorussischen Separatisten steht, ihre Hände offen nach Russland aus.
Politiker in Sorge: Prorussische Separatisten in Transnistrien bitten Moskau um "Schutz" vor Moldau
Erst vergangene Woche haben die Aufständischen, Russland um "Schutz" vor der Republik Moldau gebeten, meldeten russische Nachrichtenagenturen. Auslöser ist die moldauische Mehrwertsteuer. Sie wird jetzt auch für Im- und Exporte nach und aus dem Separatistengebiet fällig. Das Außenministerium in Moskau reagierte auf den Hilfeschrei aus Transnistrien. Die russische Behörde versicherte, dass die Interessen der Bewohner der kleinen Region, "ihrer Landsleute", Priorität habe.

In Europa versetzt das Politiker in Sorge, weil diese Bitte um Schutz auch an den Kriegsausbruch in der Ukraine erinnert. Damals wandten sich Separatistenführer in Luhansk und Donezk an Putin. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) reagierte auf der Plattform X: "Moldau steht nicht allein, es hat starke Freunde. Kein Land ist Russlands Hinterhof und darf destabilisiert werden."
Osteuropa-Historiker Martin Schulze Wessel: Russland würde Machtverhältnisse in Moldau verändern
Doch wie groß ist die Gefahr einer Destabilisierung wirklich? Könnte in Moldau ein neuer Krisenherd entstehen? Der Osteuropa-Historiker Martin Schulze Wessel (62) von der LMU in München hat dazu eine klare Einschätzung: "Wenn Russland es könnte, würde es selbstverständlich in Transnistrien eingreifen und auch die Machtverhältnisse in Moldau verändern", sagt der Experte zur AZ.

Die Grenze der Ukraine ist nur wenige Kilometer von Transnistrien entfernt. Trotzdem glaubt Schulze Wessel nicht, dass der "Appell" aus der Region im Osten Moldaus von Moskau beantwortet werden kann. Möglich wäre das ihm zufolge nur, wenn Russland weitere Gebiete in der Ukraine gewinnt. Dann könnte sich der Krieg ausweiten.
20.000 Tonnen Waffenmaterial: Russische Soldaten sind weiterhin in Transnistrien stationiert
Woher die Nähe Transnistriens zu Russland überhaupt kommt? Der Landstreifen wollte 1990 beim Zerfall der Sowjetunion von Moldau unabhängig werden. Diese Bestrebungen endeten in einem Krieg zwischen Streitkräften aus Moldau und Aufständischen aus Transnistrien. Etwa 500 Menschen starben – bis die Auseinandersetzung durch das Eingreifen der bis heute im Separatistengebiet stationierten 14. Gardearmee Russlands eingefroren wurde.

Offiziell liegt die abtrünnige Region noch auf moldauischen Staatsgebiet, de facto steht sie aber unter Kontrolle eines von Russland gestütztem Regimes. Auch die rund 1500 russischen Kämpfer sind trotz internationaler Bemühungen nicht abgezogen und besitzen noch immer ein Waffenmaterial von knapp 20.000 Tonnen, wie mehrere Medien unter Berufung auf Militärführer berichteten.
Waffenlieferungen an die Ukraine: "Politik muss Priorität klar erkennen" – Putin will Öffentlichkeit "zermürben"
Der Historiker Schulze Wessel denkt nicht, dass durch die russischen Soldaten in Transnistrien eine neue militärische Situation geschaffen werden könnte. "Solange sich die Ukraine behaupten kann, droht das nicht. Das zeigt aber auch, wie wichtig die Unterstützung der Ukraine mit Munition und Lenkwaffensystemen ist."
Man müsse genau sondieren, wo überall Munition ist, und diese auch liefern. Der tschechische Präsident Petr Pavel habe dafür schon Anstrengungen unternommen und wolle 800.000 Schuss Munition organisieren. "Die westliche Politik muss ihre Priorität jetzt klar erkennen, und die liegt darin, dass nur die entschlossene Stärkung der Ukraine verhindern kann, dass aus Putins Spielen ein weiteres mächtepolitisches Ausgreifen in Europa wird."
Zu den "Spielen" des russischen Staatsoberhaupts gehören laut dem Osteuropa-Experten auch das Drohen mit Atombomben und das Anzetteln von Krisen – wie in Transnistrien. Putin wolle so den Westen "mental überfordern" und die Öffentlichkeit "zermürben", meint der Historiker. Von derartigen Nebenkriegsschauplätzen dürfe man sich aber nicht vom Krieg in der Ukraine ablenken lassen.