Nato-General a.D. Hans-Lothar Domröse: Russischer Angriff auf Nato-Gebiet "wäre Wahnsinn"

AZ-Interview mit Hans-Lothar Domröse: Der 69-jährige General a.D. war bis 2016 Oberbefehlshaber des NATO Allied Joint Force Command Brunssum/Niederlande und war Stabschef der NATO-Missionen im Kosovo und Afghanistan.

AZ: Herr Domröse, offenbar handelt es sich in Polen nicht um den Einschlag einer russischen Rakete. Wie groß ist Ihrer Einschätzung nach dennoch die Gefahr, dass ein solcher Fall im Laufe des Krieges doch eintritt?
HANS-LOTHAR DOMRÖSE: Das kann immer passieren, weil Kriege unberechenbar sind. Aber man muss unterscheiden zwischen einem versehentlichen Schlag, wie das jetzt passiert ist, der natürlich tragisch ist, und Absicht. Ich glaube nicht, dass die Russen diese Absicht hegen. Das wäre Wahnsinn, gegen die hochgerüstete moderne Nato anzutreten. Das machen sie nicht.
Was würde bei einem Raketen-Einschlag in einem Nato-Land passieren?
Wenn eine russische Rakete in einem Nato-Land einschlägt, was würde passieren? Würde zwingend der Bündnisfall eintreten?
Da gibt es zunächst den Artikel 4: Man berät die Sachlage, trägt vor, was vorgefallen ist, und fragt, wie die Partner das Geschehen bewerten, würde die Sorgen ansprechen und die Frage stellen: Ist dies ein Verteidigungsfall oder nicht? Dann geht man über zu Artikel 5, dem Bündnisfall. Wenn es sich um eine russische Rakete handeln würde, würde man heiße Drähte haben und versuchen, mit der Gegenseite zu klären, ob eine Absicht dahintersteckt oder ob es sich um ein Versehen handelt. Ist es ein Versehen, wird man das akzeptieren müssen. Ist es Absicht, wird man in Richtung Artikel 5 weitergehen. Diese Mechanismen sind sehr klug: Man nimmt sich Zeit zur Analyse und zum Gespräch. Denn es geht um Krieg oder Frieden. Eine sehr große Entscheidungsverantwortung.
"In Deutschland würde man in verschiedenen Bereitschaftsstufen hochfahren"
Wenn tatsächlich der Bündnisfall eintritt, was wären für die Bundeswehr die ersten Schritte, die dann folgen würden?
Für alle 30 Nato-Nationen bedeutet das dann sofort: Alle Männer und Frauen an die Waffen. Wir haben verschiedene Bereitschaftsstufen. Die Air Force hat jeden Tag viele Flugzeuge in der Luft, um wachsam zu sein. Wir beobachten ja alles. Die Drohnen, die Schiffe, alles würde in die betroffenen Gebiete ausschwärmen, um die Verteidigungslinien zu besetzen und einen möglichen bevorstehenden Angriff abzuwehren. Man würde deutlich signalisieren: Achtung Gegenseite, passt auf, wir treffen jetzt Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung, natoweit: die Bundeswehr und alle anderen 29 Nato-Staaten.
Könnte die Bundeswehr ihren Verpflichtungen, die in diesem ersten Schritt und später entstehen, derzeit überhaupt nachkommen – in dem Maße, wie es gefordert ist?
Da verfährt jeder so, wie er kann, holt quasi alles aus dem Keller, was er hat, und mobilisiert. Ich bin gerade in Litauen und habe mir die Truppen hier angesehen. Die sind vorbereitet. Die haben ihre Munition dabei, sind gut ausgebildet und gut ausgerüstet und würden die Truppen Richtung Belarus und Kaliningrad verlegen – völlig klar. Die können das und würden es sofort machen. In Deutschland würde man in verschiedenen Bereitschaftsstufen hochfahren, ausbilden, Trainingszyklen erhöhen. Man würde von Acht-Stunden- auf zweimal Zwölf-Stunden-Schichtbetrieb gehen. Man würde die Instandsetzung in Gang setzen, die Industrie anwerfen. Es geht um unsere Freiheit.
"Ich habe größte Sympathie für den Präsidenten"
Die Ukraine beharrt darauf, dass die in Polen eingeschlagene Rakete aus Russland stamme und nicht aus dem eigenen Land – auch wenn Präsident Wolodymyr Selenskyj nun einräumte, er könne nicht hundertprozentig sicher sein. Rüttelt dieses Verhalten an der Glaubwürdigkeit der Ukraine? Beeinflusst es das Verhältnis des Westens zu Kiew?
Das glaube ich nicht. Da muss man mit großem Herzen rangehen. Dieser Mann steht seit neun Monaten im Krieg. Jeden Tag zieht er dreimal um, damit er nicht erschossen wird. Dass die Nerven blank liegen nach diesem schweren Blutzoll, nach dieser dramatischen Zerstörung, mit 15 Millionen Ukrainern auf der Flucht, dass Selenskyi angespannt ist – das alles ist völlig verständlich. Ich habe größte Sympathie für den Präsidenten. Er muss sich für sein Volk einsetzen. Bei den Untersuchungen zur Herkunft der Rakete müssen wir das Ergebnis abwarten. Aber es deutet alles darauf hin, dass es eine Abwehrrakete war.
Sie gehen davon aus, dass der Krieg zu einem "frozen conflict", also einem eingefrorenen Konflikt wird, wie ihn Deutschland selbst in den Jahrzehnten der Teilung erlebt hat. Was glauben Sie, wann geht er in einen Zustand über, in dem es keine aktiven Kampfhandlungen mehr gibt, sondern jeder nur noch auf seinem Gebiet beharrt?
Den Zeitpunkt kann nur der Überfallene, also Präsident Selenskyj, auslösen, mit seinen Beratern und seinem Parlament. Er muss irgendwann die Entscheidung treffen: Will ich einen Waffenstillstand und verhandele lang und zäh über die mögliche Rückkehr der verschiedenen besetzten Gebiete? Die Krim werden die Russen wahrscheinlich nicht rausgeben. Da muss man über einen langen Zeithorizont verhandeln. Nehmen Sie die Deutsche Einheit: Wir haben nie darauf verzichtet. Und doch haben wir sie bekommen: 50 Jahre nach dem Krieg. Hier muss man einen ganz langen Atem haben, wenn man das eines Tages erreichen will.
Wer muss den Anfang machen?
Der Auslöser für Verhandlungen muss vom ukrainischen Präsidenten kommen. Es darf nicht sein, dass Russland einen Diktatfrieden macht. Wir haben schlechte Erfahrungen mit Versailles. Ein Diktatfrieden ist nicht gut, ist brüchig. Wolodymyr Selenskyj ist aufgefordert, eines Tages zu sagen: Es ist genug, wir kommen nicht weiter, ich will keine Toten und keine Zerstörung mehr. Man wird sehen müssen, wie er dann mit Putin klarkommt, ob der einwilligt oder nicht. Der Westen muss natürlich eine Schutz-und Sicherheitsgarantie für die (Rest-)Ukraine übernehmen, um zu verhindern, dass der Kreml es noch einmal versucht.