Nahost-Experte Stetter:"Netanjahu steht mit dem Rücken zur Wand"

München - Stephan Stetter im AZ-Interview: Der 48-Jährige ist Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München und forscht schwerpunktmäßig zu Konflikten, Politik und Gesellschaft im Nahen Osten.
AZ: Herr Professor Stetter, waren Sie überrascht, dass es ausgerechnet jetzt zu dieser Eskalation der Gewalt zwischen Palästinensern und Israelis gekommen ist?
STEPHAN STETTER: Nein, das war ich nicht. Und zwar aus drei Gründen. Erstens: Es gibt diesen Konflikt schon sehr, sehr lange. Wenn man so will, ist dies bereits der vierte Krieg zwischen Israel und der Hamas nach den Kampfhandlungen 2008, 2012 und 2014. Es war also nur eine Frage der Zeit, wobei es keine der beiden Seiten bis zum Äußersten treiben will. Israel will nicht in den Gazastreifen einmarschieren, um die Hamas zu stürzen. Und die Hamas will den Konflikt nicht so weit auf die Spitze treiben, dass diese Gefahr irgendwann Realität werden könnte.

Die anderen Gründe?
Der zweite lautet: Der israelisch-palästinensische Konflikt ist nicht gelöst. Die Spannungen, die es vor allem in Jerusalem gegeben hat, waren ein Funken. Die Hamas hat ein Ultimatum gestellt, wonach die Israelis sich vom Tempelberg, dem Haram Al-Sharif, zurückziehen sollten. Das haben sie nicht getan, dem Druck haben sie nicht nachgegeben. Die Hamas hat daraufhin die Kampfhandlungen begonnen. Der dritte Grund: Israel, die Regierung Netanjahu, hat nichts getan, um einen Friedensprozess zu starten. Der ehemalige Regierungschef Ehud Olmert hat schon vor Monaten gewarnt, dass eine Welle der Gewalt bevorstehen könnte, wenn Israel nicht endlich etwas in dieser Richtung unternimmt.
Diese Rolle spielt der Iran im Nahost-Konflikt
Inwieweit ist der Konflikt durch den Iran befeuert? Waren Sie nicht überrascht, über welch großes Arsenal an Raketen die Hamas verfügt?
Die Größe des Arsenals der Hamas ist unter Experten keine Überraschung. Man vermutet, dass sie über 10.000 bis 15.000 Raketen verfügt. Sie hatte seit 2014 Zeit, um zu produzieren. Das ist für die Hamas nicht leicht, weil der Gazastreifen sowohl von israelischer als auch von ägyptischer Seite einer Blockade unterliegt. Es ist richtig, dass die Hamas vom Iran waffentechnologisches Know-how bezieht, aber die Hamas muss auch sehr viel selber machen. Die Mehrzahl der Waffen sind selbst zusammengebaut. Im Gazastreifen gibt es eine Vielzahl von Fabriken, in denen Arbeiter, Chemiker, Ingenieure diese Waffen herstellen. Verarbeitet werden Wasserrohre und Ähnliches sowie auch Überbleibsel von israelischen Waffen. Da gibt es eine eigene Wirtschaftsstruktur in Gaza.
Denkt man an die Zeit nach Ende des aktuellen Konflikts: Wie und durch wen könnten Waffenstillstandsverhandlungen in Gang gebracht werden?
Zu Verhandlungen wird es kommen, wenn beide Seiten ihre strategischen Ziele halbwegs erreicht haben. Es wird viel internationaler Druck erzeugt, nicht nur von den Amerikanern, sondern auch von arabischen Staaten, die Zugang zur Hamas haben, wie Katar oder auch Ägypten. Allerdings haben die letzten Waffenstillstände nie das Grundproblem gelöst. Die Regierung Netanjahu, die seit 2009 herrscht, ist nicht in der Lage gewesen, einen wirklich tragfähigen Waffenstillstand auszuhandeln. Von der Hamas wird man dies auch nicht erwarten können, das ist nicht in ihrer DNA. Aber Netanjahu ist gescheitert mit den Waffenstillständen, die er mit Gaza geschlossen hat. Da wurde nur Ruhe auf Zeit gekauft, alles stand immer auf einem brüchigen Fundament.
Netanjahu steht innenpolitisch unter massivem Druck, vor allem aufgrund der Korruptionsfälle, in die er offensichtlich verwickelt ist.
Ja, ihm geht es vor allem darum, an der Macht zu bleiben. Netanjahu hat jetzt vier Wahlen weder gewonnen noch verloren. Er steht mit dem Rücken zur Wand. Er kommt aus dem Likud, einer sehr nationalistischen Partei. Er hat in den letzten Jahren verstärkt Koalitionen mit hypernationalistischen und auch rassistischen Parteien und Gruppierungen gesucht. Die braucht er, weil ihn andere Parteien nicht mehr tragen und stützen wollen. Netanjahu kann diese Eskalation ganz gut gebrauchen, um seine Ablösung zu verhindern.
"Konflikte wie diesen gibt es in vielen Regionen auf der Erde"
Bei der Betrachtung des Nahost-Konflikts lautet die Königsfrage seit vielen Jahrzehnten: Wie könnte es zu einem dauerhaften Frieden kommen? Wie lassen sich die Fehler des letztlich gescheiterten Oslo-Friedensprozesses vermeiden?
Zuerst sollten wir uns fragen, warum uns ausgerechnet diese Auseinandersetzung so interessiert. Konflikte wie diesen gibt es im Kosovo, Kongo oder in Kolumbien und in vielen anderen Regionen auf der Erde. Hier muss man feststellen, dass beide Gesellschaften, Israel wie Palästina, unter dem Konflikt leiden. Gleichzeitig haben beide seit 100 Jahren Verantwortung dafür. Nicht eine Seite ist die gute und die andere ist die böse. Das ist sehr wichtig.
Sie kritisieren Netanjahu vehement, aber trägt nicht auch die Hamas eine Mitschuld?
Die Hamas ist nicht die palästinensische Regierung, das ist die Autonomiebehörde unter Mahmud Abbas. Und von ihm sagt Ehud Olmert, er sei ein Friedenspartner. Aber das ist von Netanjahu nie genutzt worden. Genauso wie die Friedensinitiative der Arabischen Liga von seinen Regierungen nie aufgegriffen wurde. Für einen Friedensprozess braucht es die Zwei-Staaten-Lösung, die zwar vielfach kritisiert wird, für die ich - allerdings in deutlich modifizierter Form - stark plädiere.
Wie sieht es mit Lehren aus Oslo aus?
Drei Fehler müssen vermieden werden. Erstens muss es eine echte Symmetrie geben zwischen Israel und Palästina, die Sicherheit beider Staaten und ihrer Menschen muss geschützt werden, genauso wie ihr Selbstbestimmungsrecht. Zweitens muss die Frage beantwortet werden, wie Israelis und Palästinenser nach dem Friedensschluss zusammenleben wollen. Sie leben auf einem kleinen Flecken Erde zusammen und sind auch sonst miteinander verwoben. Es sollten zwei separate Staaten sein, die aber in einer übergeordneten Struktur, einer Art Föderation, auch gemeinsame Institutionen haben, in denen sie gleichberechtigt vertreten sind. Und drittens müssen Israel und Palästina auch in die regionale Ordnung integriert werden. Mit den Friedensschlüssen, die Israel gerade mit einigen arabischen Staaten gemacht hat, gäbe es da Ansatzpunkte. Ein Frieden, das haben zum Beispiel Südtirol oder Nordirland in der Vergangenheit gezeigt, klappt nur, wenn alles in eine größere regionale Struktur eingebettet ist.