Nahles: "Gesetzliche Rente muss die tragende Säule bleiben"

Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles spricht mit der AZ über die Alterssicherung, ihre Idee eines Chancenkontos sowie über die prekären Jobverhältnisse vieler Arbeitnehmer.
Interview: Markus Lohmüller |
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Will bei der Rente anpacken: Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles (SPD).
Kay Nietfeld/dpa Will bei der Rente anpacken: Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles (SPD).

München/Berlin - Andrea Nahles (47) seit 2013 Bundesministerin für Arbeit und Soziales. Die SPD-Frau wird dem linken Flügel ihrer Partei zugerechnet.

AZ: Frau Nahles, Sie haben ein Chancenkonto in Höhe von bis zu 20 000 Euro für Erwerbstätige vorgeschlagen. Wem soll das Geld zugutekommen?
Andrea Nahles: Allen Arbeitnehmern ab dem 18. Lebensjahr. Allerdings soll nicht einfach Bargeld ausgezahlt werden. Das Chancenkonto soll eher wie ein Gutschein wirken, der am Ende auch verfallen kann. Ich möchte, dass die Leute in unserem Land etwas riskieren können. Wer zum Beispiel eine Firma gründen möchte, darf nicht gleich in der Überschuldung landen. Und man soll sich qualifizieren können. Mit der Digitalisierung der Arbeit erleben wir nicht etwa das Ende der Arbeit, sondern eine Veränderung von Arbeitsabläufen und Anforderungen. Das Chancenkonto soll den Beschäftigten ein Stück Sicherheit geben und sie ermutigen, Neues zu wagen. Unsere Wirtschaft lebt von Innovationen. Mein Ziel ist es, dass beide profitieren, Wirtschaft und Beschäftigte.

Die Arbeitgeber wird es freuen, wenn künftig der Staat die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter bezahlt.
So ist das nicht gedacht. Die Unternehmen bleiben auch künftig in der Pflicht, sich um die Qualifizierung ihrer Mitarbeiter zu kümmern. Wenn etwa eine neue Maschine angeschafft wird und Mitarbeiter geschult werden müssen, gehört das zum klassischen betrieblichen Geschäft. Ich freue mich über jedes einzelne Unternehmen, das seine Mitarbeiter fortbildet. Allerdings sind es vor allem große Firmen, die ihre ohnehin gut ausgebildeten Mitarbeiter weiterqualifizieren. Bei Kleinbetrieben und Geringqualifizierten sieht das anders aus. Wir brauchen deshalb mehr Möglichkeiten, vor allem für diejenigen, die von sich aus Neues lernen möchten. Ich möchte sie ermuntern und unterstützen, um aus ihnen Fachkräfte zu machen, die unsere Wirtschaft dringend braucht.

Bis zu 20 000 Euro für jeden Arbeitgeber, das dürfte insgesamt ziemlich teuer werden. Wie wollen Sie das Chancenkonto finanzieren?
Es werden ja nicht alle Bürger ihr gesamtes Guthaben gleichzeitig einlösen. Manche nutzen vielleicht einen Teil, manche nutzen es gar nicht. Die Kosten verteilen sich zudem über das gesamte Berufsleben, das sind Jahrzehnte. Die Kritik am Chancenkonto ist deshalb aus der Hüfte geschossen. Das plakative Zusammenrechnen von Kosten ist völliger Unsinn. Tatsache ist, dass sich das Chancenkonto bei guter wirtschaftlicher Lage im Bundeshaushalt abbilden lässt.

"Die CSU wollte aus dem Mindestlohn einen Schweizer Käse machen"

Viel teurer wird es im Übrigen, wenn wir nichts tun. Bei der Digitalisierung geht es um mehr als die Frage, ob ich mir im Internet neue Schuhe bestellen kann. Es geht auch um mobiles Arbeiten, neue Geschäftsmodelle, die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Roboter. Wir brauchen deshalb neue innovative Ideen, damit Deutschland auch in Zukunft die Nase vorne hat.

Zum Wandel der Arbeitswelt gehört leider auch, dass es immer mehr unsichere und nur gering bezahlte Jobs gibt. Wie kann die Politik hier gegensteuern?
Sie haben Recht und dieser Trend besorgt mich. Ich denke da an das Thema sachgrundlose Befristung. Vor allem junge Leute bekommen oft gar nichts anderes mehr angeboten. Da reiht sich eine Befristung an die nächste. Viele können sich deshalb kein Auto kaufen, keine Wohnung mieten und sie trauen sich nicht, eine Familie zu gründen. Das darf nicht sein. Unternehmen sollen auch künftig mit Sachgrund befristen können, etwa wegen Mutterschutz oder Elternzeit. Eine Befristung ohne jeden Grund ist überflüssig.

Ich will aber auch daran erinnern, dass wir einiges geschafft haben. Denken Sie an den Mindestlohn, von dessen Einführung vier Millionen Menschen profitiert haben. Oder unser Gesetz zur Bekämpfung des Werkvertragsunwesens. Dass wir in der laufenden Legislaturperiode nicht mehr erreichen konnten, lag vor allem an der Union. Die CSU beispielsweise wollte aus dem Mindestlohn einen Schweizer Käse mit vielen Ausnahmen machen.

Nicht durchsetzen konnten Sie sich bislang mit Ihrer Forderung nach einem Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit. Zum Glück, werden viele Arbeitgeber sagen, die um ihre Planungssicherheit fürchten.
Selbstverständlich braucht es verbindliche Absprachen. Die spätere Rückkehr in Vollzeit würde wie bei der Elternzeit vorab vereinbart. Von fehlender Planungssicherheit kann also keine Rede sein. Bei triftigen betrieblichen Gründen könnte der Arbeitgeber sogar ablehnen, er müsste dies aber nachweisen. Die Union wollte das Gesetz allerdings so stark aufweichen, dass es beinahe wirkungslos geworden wäre. Das habe ich nicht mitgemacht. Das Thema ist damit aber nicht erledigt. Vor allem Frauen stecken viel zu oft in der Teilzeitfalle. Sie reduzieren ihren Familien zuliebe ihre Arbeitszeit und werden anschließend dafür bestraft, wenn sie wieder mehr arbeiten wollen. Und das, obwohl sie häufig gut qualifiziert sind und die Arbeitgeber über Fachkräftemangel klagen. Da stimmt doch was nicht.

Mehr als die Sorge um den Job plagt den deutschen Arbeitnehmer die Angst, dass die Rente später mal nicht reicht. Können Sie ihn wenigstens ein Stück weit beruhigen?
Ja, aber nur, wenn wir etwas tun. Denn nach geltendem Recht sinkt das Rentenniveau weiter ab, auf bis zu 43 Prozent im Jahr 2030. Für die Zeit danach gibt es gar keine gesetzliche Vorgabe mehr. Wer also will, dass das Rentenniveau stabil bleibt, der muss das Gesetz ändern. Die Union möchte bis 2030 gar nichts machen, außer eine Rentenkommission gründen.

"Auch die junge Generation verdient Verlässlichkeit"

Die Wähler haben am 24. September deshalb eine klare Wahl zwischen zwei Alternativen: nichts zu tun oder mit der SPD die Rente auf heutigem Niveau von 48 Prozent zu stabilisieren. Übrigens verschweigen wir dabei nicht, dass das etwas kostet. Wir sagen aber auch, was es bringt: 150 Euro monatlich mehr Rente für den Durchschnittsverdiener, 225 Euro für einen guten Facharbeiter.

Bezahlen müssen Ihr milliardenschweres Rentenkonzept vor allem die Jungen. Denn richtig teuer werden die Pläne erst ab 2028. Ist das gerecht?
Ungerecht ist, wenn diejenigen, die am meisten Beiträge einzahlen, am wenigsten rausbekommen. Auch die junge Generation verdient Verlässlichkeit. Ihr Vertrauen darauf, selbst einmal eine anständige Rente zu bekommen, geht aber zunehmend verloren. Ich möchte dieses Vertrauen mit einer gesetzlich verbrieften Haltelinie für das Rentenniveau wieder herstellen. Dabei sollen gleichzeitig die Beitragszahlungen gedeckelt werden. Durch einen höheren Steuerzuschuss zur Rente ist beides möglich. Damit wird die Frage des demografischen Wandels auf breite Schultern verteilt und nicht allein den jungen Beschäftigten aufgebürdet.

Private Vorsorge dürfte dennoch unerlässlich bleiben.
Man steht immer besser auf zwei Beinen als auf einem. Die betriebliche oder private Rente ist eine sinnvolle Ergänzung. Der Staat hat aber dafür zu sorgen, dass die gesetzliche Rente die tragende Säule bleibt. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Nullzinspolitik hat sich kein System so bewährt wie unsere gesetzliche Rentenversicherung. Sie hat die Finanzkrise, aber auch die Wiedervereinigung und zwei Weltkriege überstanden.

"Wer einzahlt, soll nicht um seinen verdienten Anteil betteln müssen"

Ein Arbeitsleben ohne große Brüche und mit durchgehend anständigem Lohn gelingt immer weniger Menschen. Wer nicht ausreichend einzahlt, dem nutzt allerdings auch ein stabiles Rentenniveau wenig.
Deshalb schlägt die SPD eine Solidarrente vor. Wer 35 Jahre Beiträge einbezahlt hat, soll eine Rente von mindestens zehn Prozent über der Grundsicherung bekommen. Das käme Geringverdienern ebenso zugute wie Frauen, die familienbedingt zehn Jahre ausgesetzt haben, oder Menschen, die vorübergehend arbeitslos waren, ansonsten aber immer gearbeitet haben. Diese Zeiten würden angerechnet werden. Die CSU besteht weiter darauf, dass diese Leute zum Sozialamt gehen und eine Bedarfsprüfung über sich ergehen lassen müssen. Sie sollen genauso behandelt werden wie jemand, der in seinem Leben gar nicht oder nur sehr wenig gearbeitet hat. Ich sehe das anders: Menschen, die in die Alterssicherungssysteme eingezahlt haben, sollen nicht um ihren verdienten Anteil betteln müssen.

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