Nach Nervengift-Anschlag: London droht Russland mit Cyber-Angriffen
London - Im Fall des Giftanschlages auf den britischen Ex-Spion Sergei Skripal will die britische Regierung heute eine Reihe von Sanktionen gegen Russland verhängen. Diese könnten, wie die "Times" gestern meldete, bis hin zu geheimen Cyber-Attacken auf Netzwerke des Kremls reichen.
Das Verteidigungsministerium arbeite zusammen mit dem Abhördienst GCHQ an einem offensiven Cyberprogramm. "Das wäre etwas, was wir im Arsenal haben", zitierte die "Times" eine hochstehende Quelle, "und wird erwogen oder sogar wahrscheinlich gewählt." Zudem bemüht sich die britische Regierung darum, eine internationale Front gegen Russland zu schmieden.
Premierministerin Theresa May hatte am Montag im Unterhaus Russland für den Anschlag auf den Exil-Russen Sergei Skripal (66) verantwortlich gemacht, der zusammen mit seiner Tochter Yulia (33) in Salisbury vergiftet worden war. May erklärte, dass bei dem Mordversuch ein Nervenkampfstoff aus der sogenannten Nowitschok-Serie zum Einsatz kam, der in Russland entwickelt worden sei. Sie stellte den russischen Behörden ein Ultimatum bis Dienstag Mitternacht, um den Sachverhalt aufzuklären (AZ berichtete).
Im Kreml denkt man jedoch nicht daran, darauf einzugehen. Erst müsse Moskau Zugang zu den verdächtigen Proben erhalten und London eine gemeinsame Untersuchung zulassen, teilte das russische Außenministerium gestern mit. "Ansonsten sind alle Aussagen Londons sinnlos", hieß es. Ohne das Zugeständnis sei das Vorgehen Großbritanniens ein weiterer "unmenschlicher Versuch", Russland zu diskreditieren. Außenminister Sergej Lawrow hatte bereits erklärt, dass man mit dem Anschlag "nichts zu tun habe". Das Ganze sei eine "Zirkusnummer" der Briten.
May drohte dennoch mit Konsequenzen. Sollte es "keine glaubhafte Erklärung geben, werden wir schlussfolgern, dass diese Aktion gleichbedeutend mit der unrechtmäßigen Gewaltanwendung des russischen Staates gegen Großbritannien ist." Mit ihrer Wortwahl deutete May an, dass sie Artikel 51 der Charta der Vereinigten Nationen anrufen könne, die das Recht auf legitime Selbstverteidigung erlaubt.
Anschlags-Opfer ringt weiter mit dem Tod
Derweil macht die Arbeit am internationalen Schulterschluss gute Fortschritte. Noch am Montagabend rief May ihren französischen Amtskollegen Emmanuel Macron an und versicherte sich seiner Solidarität. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg zeigte sich besorgt über den Anschlag und verurteilte den Einsatz von Nervenkampfstoff als "völlig inakzeptabel".
Der britische Außenminister Boris Johnson telefonierte mit seinem deutschen Noch-Amtskollegen Sigmar Gabriel. "Sollte sich bestätigen, dass Russland dahinter steht, wäre das ein sehr ernster Vorgang", sagte dieser gestern. "Wir verurteilen diesen Anschlag mit einer verbotenen chemischen Waffe auf das Schärfste."
Und auch der Vizepräsident des EU-Kommission Valdis Dombrovskis unterstrich: "Natürlich kann Großbritannien in dieser Hinsicht auf EU-Solidarität zählen."
Theresa May will am Mittwoch erklären, welche Maßnahmen Großbritannien ergreift. Es wird erwartet, dass diese weit über die sonst üblichen Ausweisungen von russischen Diplomaten hinausgehen. May selbst hat im Unterhaus schon angesprochen, keine Würdenträger oder Politiker zur Fußballweltmeisterschaft in Russland schicken zu wollen. Des Weiteren sind im Gespräch der Lizenzentzug für die vom Kreml unterstützten Nachrichtensender RT und Sputnik oder das Einfrieren von russischem Vermögen in Großbritannien. Der Chef der Liberaldemokraten Vince Cable hatte vorgeschlagen, die "privaten Immobilien von Mitgliedern des Putin-Regimes und deren Partner" zu konfiszieren.
Währenddessen befinden sich Sergei und Yulia Skripal weiterhin auf der Intensivstation des Krankenhauses in Salisbury in einem kritischen Zustand. Auch der Polizist Nick Bailey, der ihnen als einer der ersten zu Hilfe kam, liegt noch in der Klinik.
Die Polizei findet in dem idyllischen Städtchen in der Grafschaft Wiltshire immer mehr Stellen, die man absperren muss, weil dort Spuren des Nervengiftes vermutet werden.
Das Militär hat rund 200 Soldaten geschickt, die in ABC-Schutzanzügen bei den Ermittlungen helfen. Die Stadt ist weiterhin im Ausnahmezustand, die Verunsicherung der Menschen groß. Der Fall Skripal wird die Briten noch eine Weile beschäftigen.
Innenministerin lässt 14 Fälle untersuchen: Tödliche Grüße aus Moskau
Der Fall Skripal erinnert an den Mord an Ex-Agent und Kremlkritiker Alexander Litwinenko (44), der 2006 in London mit radioaktivem Polonium vergiftet wurde. Die Spuren der Täter führten damals ebenfalls nach Moskau.
Verstörend: Auch mehrere Kontaktpersonen des Ermordeten kamen später auf mysteriöse Art und Weise ums Leben.
Etwa Igor Ponomarev, der russische UN-Botschafter, der kurz nach Litwinenko überraschend starb. Laut dem US-Nachrichtenportal "BuzzFeed" zeigte der 41-Jährige in seinen letzten Stunden typische Symptome einer Thallium-Vergiftung. Er hatte geplant, sich mit einem Privatdetektiv zu treffen, der Kontakt zu Litwinenko hatte.
Oder Matthew Puncher. Der britische Forscher hatte festgestellt, dass Liwinenko mit Polonium getötet worden war. 2014 beging Puncher angeblich Suizid. Wie "BuzzFeed" berichtet, soll sich der 46-Jährige selbst mit zwei Messern Stichwunden in Nacken, Arme, Brust und Unterkörper zugefügt haben – und schließlich verblutet sein, fünf Monate nach einer Russland-Reise.
Zwei Jahre zuvor war der russische Bankier Alexander Perepilichnyy (43) in der Nähe von London beim Joggen zusammengebrochen. Er war 2009 nach Großbritannien geflohen, um ein Geldwäschesystem auffliegen zu lassen, in das russische Kriminelle und Offizielle gleichermaßen verstrickt waren. Er hatte Morddrohungen erhalten, ein Experte entdeckte Giftspuren – die Akten sind unter Verschluss.
Großbritanniens Innenministerin Amber Rudd hat nun angeordnet, insgesamt 14 Todesfälle genauer untersuchen zu lassen, in die Russland verstrickt sein könnte. Dasselbe hatte schon Ex-Scotland-Yard-Chef Ian Blair verlangt. "Lasst uns noch mal einen genauen Blick darauf haben und schauen, ob es ein Muster gibt – wenn Leute beim Joggen tot umfallen und in ihrem Haus in Surrey tot aufgefunden werden und so weiter", sagte er der BBC.