Nach langem Zögern: Ankara nimmt den IS ins Visier

Die Türkei hat erstmals Stellungen des Islamischen Staates (IS) in Syrien bombardiert und damit ihre jahrelange Zurückhaltung gegenüber der Terrormiliz beendet. Alle angegriffenen IS-Ziele seien zerstört worden, sagte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu.
Ankara - Zugleich drohte er mit weiteren Schlägen: "Die Türkei wird gegen jede auch nur kleinste bedrohliche Bewegung aufs Härteste reagieren". Zudem gab Ankara dem Drängen Washingtons nach und gestattet nun die Nutzung des Nato-Luftwaffenstützpunktes Incirlik im Süden der Türkei für US-Kampfeinsätze gegen den IS.
Präsident Recep Tayyip Erdogan bestätigte die Kehrtwende, über die zunächst aus Washington berichtet worden war. Auf die Frage, ob eine solche Erlaubnis erteilt worden sei, antwortete er laut Nachrichtenagentur DHA: "In einem gewissen Rahmen."
Damit können die USA die Hochburgen des Islamischen Staates im Norden Syriens wesentlich schneller und effektiver angreifen als bisher von Jordanien, vom Irak oder von den Golfstaaten aus. Außerdem könnten sie von Incirlik aus auch Kampfhubschrauber gegen den IS einsetzen.
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Auslöser der Entwicklung war der nach türkischen Angaben vom IS verübte Bombenanschlag im südtürkischen Suruc am Montag mit 32 Toten. Am Donnerstag starben zudem bei einem Grenzgefecht mit dem IS ein türkischer Soldat und mindestens ein Extremist. "Wer uns Schaden zufügt, muss den zehnfachen Preis zahlen", warnte Davutoglu.
Nach Angaben der Regierung stiegen am frühen Freitagmorgen drei Kampfjets vom Typ F-16 vom Stützpunkt Diyarbakir auf und griffen Ziele im Norden des Nachbarlandes an. "Die türkische Republik ist entschlossen, alle nötigen Maßnahmen zur nationalen Sicherheit zu ergreifen", hieß es in einer Mitteilung. Die Regierung in Damaskus kritisierte die Angriffe als Verletzung der Souveränität Syriens.
Zuvor hatte US-Präsident Barack Obama mit Erdogan telefoniert und nach Angaben des Weißen Hauses besprochen, wie die türkische Grenze zu Syrien sicherer werden und der Zustrom ausländischer Kämpfer für den IS eingedämmt werden könne.
Die Denkfabrik Soufan Group in New York schrieb, die sunnitische Türkei habe den sunnitischen IS lange relativ unbehelligt gelassen, weil sie ihn als nützlichen Gegner des Regimes von Baschar al-Assad in Syrien angesehen habe. Aber der IS habe kaum die Assad-Armee, sondern meist andere, von der Türkei unterstützte Rebellen bekämpft.
Zudem habe sich die von Ankara ebenfalls erhoffte Schwächung der Kurden im Irak und in Syrien durch den IS ins Gegenteil verwandelt: Die Kurden seien mit US-Unterstützung durch den Kampf mit der Terrormiliz noch gestärkt worden. Schließlich sehe Ankara auch die eigene innere Sicherheit und damit die wirtschaftlich bedeutsame Tourismusbranche durch den IS gefährdet.
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Für den Nahost-Experten Michael Lüders ist die türkische Kehrtwende das Eingeständnis eines Scheiterns der bisherigen Politik gegenüber dem IS. "Man glaubte, man könnte den Tiger reiten, aber jetzt funktioniert es nicht mehr", sagte er dem Nachrichtensender n-tv.
Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir begrüßte die Kehrtwende der Türkei. Die Entscheidung komme aber recht spät, sagte Özdemir dem rbb-Inforadio. Die Grünen-Abgeordneten Claudia Roth und Omid Nouripour betonten, eine wirkliche Kehrtwende erfordere unter anderem ein Ende der türkischen Unterstützung radikaler Kräfte in Syrien und der Duldung des IS auf türkischem Boden.
Zeitgleich mit den Angriffen auf Stellungen des Islamischen Staates in Syrien gingen türkische Sicherheitskräfte bei Razzien in Istanbul und anderen Städten massiv gegen mutmaßliche Anhänger des IS sowie der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK vor.