Nach Abstimmungsdrama: Wulff neuer Bundespräsident

Christian Wulff wird nach einem nervenzehrenden Abstimmungsdrama neuer Bundespräsident. Für die schwarz-gelbe Koalition von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ist es ein weiterer Rückschlag, dass der CDU-Politiker erst im dritten Durchgang gewählt wurde.
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Die Kanzlerin, die Blumen, der Präsident:  Angela Merkel gratuliert Christian Wulff
dpa Die Kanzlerin, die Blumen, der Präsident: Angela Merkel gratuliert Christian Wulff

BERLIN - Christian Wulff wird nach einem nervenzehrenden Abstimmungsdrama neuer Bundespräsident. Für die schwarz-gelbe Koalition von Kanzlerin Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ist es ein weiterer Rückschlag, dass der CDU-Politiker erst im dritten Durchgang gewählt wurde.

Union und FDP schafften trotz deutlicher rechnerischer Mehrheit nicht die erhoffte Demonstration der Einigkeit. Der bisherige niedersächsische Ministerpräsident setzte sich am Mittwochabend nach stundenlanger Zitterpartie mit 625 Stimmen gegen den von SPD und Grünen nominierten früheren DDR-Bürgerrechtler Joachim Gauck durch. Er bekam 494 Stimmen. In den ersten beiden Wahlgängen hatten Abweichler im schwarz-gelben Lager noch einen Sieg Wulffs verhindert. Im dritten Wahlgang reichte die einfache Mehrheit.

Wulff nahm nach langem Beifall die Wahl an. Unmittelbar zuvor hatte er sein Amt als Ministerpräsident von Niedersachsen niedergelegt.

In der Koalition war vor der Wahl befürchtet worden, dass Merkel und ihr Kandidat Wulff wegen des schlechten Erscheinungsbildes der Bundesregierung aus den eigenen Reihen einen Denkzettel bekommen. In den ersten beiden Wahlgängen verfehlte Wulff die absolute Mehrheit von 623 Stimmen, obwohl Union und FDP zusammen über 644 Stimmen verfügten. Im dritten Wahlgang holte Wulff zwar die absolute Mehrheit, allerdings fehlten ihm erneut mindestens 19 Stimmen aus dem eigenen Lager.

Die Entscheidung zugunsten Wulffs brachte auch die Linkspartei, die vor dem dritten Wahlgang ihre Kandidatin Luc Jochimsen zurückzog. Die Parteispitze gab zwar die Abstimmung frei, kündigte aber zugleich an, dass sich die Mehrheit ihrer Wahlleute enthalten werde. Damit war ein Erfolg Gaucks so gut wie ausgeschlossen. Gauck war früher Chef der Stasiunterlagen-Behörde - auch deswegen gab es bei der Linken Vorbehalte.

Merkel hatte vor dem dritten Wahlgang eindringlich für den Kandidaten der Koalition geworben. «Lassen Sie uns im dritten Wahlgang ein kraftvolles Symbol abgeben», sagte die CDU-Chefin nach Angaben von Teilnehmern in der Unionsfraktion. Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer sprach von einer historischen Verantwortung der Unions-Wahlleute. «Es geht jetzt um mehr als um den dritten Wahlgang», wurde er aus Koalitionskreisen zitiert.

FDP-Chef Guido Westerwelle machte die Union für das schlechte Abschneiden Wulffs im ersten Wahlgang verantwortlich. «Die Freien Demokraten jedenfalls werden Christian Wulff im zweiten Wahlgang erneut unterstützen - geschlossen, so wie wir es auch im ersten Wahlgang getan haben.»

Fraktionsgeschäftsführer Peter Altmaier (CDU) sprach von Denkzetteln der Abweichler. «Das waren welche, die uns sagen wollten: Ihr müsst besser werden. Ihr müsst Euren öffentlichen Streit beenden», sagte er im Sender Phoenix. «Diese Botschaft haben wir natürlich auch verstanden. Das wird in den nächsten Wochen analysiert und diskutiert.»

Bis zuletzt hatte es Kritik gegeben, dass die schwarz-gelbe Koalition ihren Kandidaten Wulff vor allem aus machtpolitischem Kalkül aufgestellt habe. In Umfragen unter der Bevölkerung hatte Gauck vor Wulff gelegen. Das Staatsoberhaupt wird aber nicht vom Volk direkt, sondern von der Bundesversammlung gewählt. Der neue Bundespräsident soll an diesem Freitag in einer gemeinsamen Sitzung von Bundestag und Bundesrat vereidigt werden. Seine Amtszeit dauert fünf Jahre.

Der bisherige Amtsinhaber Horst Köhler hatte am 31. Mai in einem historisch einmaligen Vorgang seinen sofortigen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten erklärt. Zuvor war ein Interview des 67-Jährigen, in dem er Auslandseinsätze der Bundeswehr auch mit Wirtschaftsinteressen begründete, auf heftige Kritik gestoßen.

Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) nahm in seiner Rede vor der Wahl indirekt Bezug auf Köhlers Rücktritt. «Niemand von uns steht unter Denkmalschutz (...), nicht einmal das Staatsoberhaupt. Kritik muss sein», sagte er unter dem Applaus der Opposition. Lammert sprach von Enttäuschung und Unverständnis über Köhlers Schritt.

Über Köhlers Nachfolger entschieden 1244 Wahlmänner und Wahlfrauen. Die absolute Mehrheit in den ersten beiden Wahlgängen lag bei 623 Stimmen. Die Bundesversammlung setzte sich zusammen aus den 622 Abgeordneten des Bundestags sowie ebenso vielen Mitgliedern, die von den Landesparlamenten entsandt wurden. Zumeist waren es Landtagsabgeordnete. Schwarz-Gelb hatte 21 Stimmen mehr als die absolute Mehrheit von 623 Stimmen. Gewählt wurde geheim mit verdeckten Stimmzetteln.

In den Wochen vor der Wahl hatten Wulff und Gauck bei zahlreichen Gesprächen mit Wahlmännern und -frauen in den Bundesländern für sich geworben. Wulff präsentierte sich dabei für den Fall seiner Wahl als Sprachrohr für die Angelegenheiten der Menschen und als Brückenbauer, der den Graben zwischen Bürgern und Parteien sowie Politik schließen will. Gauck, der in der DDR evangelischer Pastor gewesen war, trat als Verfechter der Freiheit auf.

Die NPD teilte am Abend auf ihrer Website mit, ihre drei Wahlleute in der Bundesversammlung hätten für Gauck als das «kleinere Übel» gestimmt.

dpa

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