Murren über „Mutti“
BERLIN - Bundeskanzlerin Angela Merkel bekommt immer mehr Stress in ihrer Parteifamilie: Viele in der Union kritisieren den Wahlkampf der Kanzlerin und CDU-Chefin. Sie vermissen mehr konservatives Profil und Attacken auf die SPD
Was für ein verräterischer Satz! Als Bundeskanzlerin Angela Merkel am Dienstabend am Berliner Hauptbahnhof müde aus dem „Rheingold-Express“ des alten Adenauer steigt, fährt sie ihre Entourage mürrisch und desorientiert an: „So, in welche Richtung gehen wir?“ Genau diese Frage stellen sich derzeit viele in der Union – immer lauter und mit zunehmend besorgtem Unterton: Will Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem 27.September wirklich Schwarz-Gelb – oder ist das nur das Lippenbekenntnis einer Kanzlerpräsidentin, die insgeheim für die Fortsetzung der bequemen großen Koalition betet?
Schon werkelt die CSU von München aus daran, die große Schwester in Berlin zum Sündenbock zu stempeln, falls es wieder in die Hose geht mit Schwarz-Gelb: Bereits direkt nach dem TV-Duell hatte CSU-Chef Horst Seehofer die CDU vergeblich zu einer „inhaltlichen Klärung und Zuspitzung“ aufgefordert. Am Mittwoch nun gab’s in München Wirbel um ein „wirtschaftliches 100-Tage-Sofortprogramm“, das das CSU-Präsidium laut Medienberichten noch schnell vor der Wahl im Alleingang beschließen wolle.
"Wir haben eine tadellose Zusammenarbeit"
Die CDU habe die Mitarbeit an dem „Wachstumspapier“ verweigert. Dessen Tenor laute: Schwarz-Gelb muss den Bürgern aufzeigen, warum eine Regierung Merkel/Westerwelle bessere Politik machen würde als die große Koalition.
Seehofer dementierte halbherzig: „Es gibt kein eigenes Wirtschaftsprogramm.“ Er werde mit CSU-Spitzenkandidat Peter Ramsauer sowie den Ministern Karl-Theodor zu Guttenberg und Ilse Aigner eine „Verdichtung des Wirtschaftsteils aus dem Regierungsprogramm“ vorlegen: „Da gibt es noch ein paar Punkte, die mir wichtig sind.“ Ob Bundeskanzlerin Angela Merkel ihn zurückgepfiffen hat? Seehofer grinsend: „Wir telefonieren täglich, haben eine tadellose Zusammenarbeit.“
Kritik am Sozi-Kuscheln
Unterdessen lassen auch in der eigenen Partei immer mehr Merkel-Kritiker ihrem Unmut freien Lauf: Vor Wochen bereits hat der von Merkel kaltgestellte Ex-Fraktionschef Friedrich Merz giftig sein Bedauern darüber geäußert, „dass wir keine harte inhaltliche Auseinandersetzung führen“.
Die Landesfürsten und Merkel-Rivalen Roland Koch und Christian Wulff wiederum werben parteiintern dafür, endlich die rot-rot-grüne Gefahr schrill an die Wand zu malen, anstatt vor laufenden Kameras mit dem Sozi Steinmeier zu kuscheln oder auf Wahlkundgebungen staatstragend über die Erfolgsgeschichte der sozialen Marktwirtschaft zu referieren.
"Angelernte Christdemokratin"
Knallharte Kritik an Merkel kommt vor allem aus der katholisch-konservativen Intelligenz in Westdeutschland: Als „großen Offenbarungseid“ einer „teflonbeschichteten Bundesmoderatorin im Überzeugungsnirwana“ kommentiert der katholische Publizist Martin Lohmann Merkels Auftritt beim TV-Duell. Nicht ein einziges Mal seien der „angelernten Christdemokratin“ Begriffe wie „christlich“, „Werte“ oder „Familie“ über die Lippen gekommen.
Das verbitterte Fazit des CDU-Kenners: „Das System Merkel frisst das Profil dieser Partei regelrecht auf.“ Merkel ersetze ihre fehlende Hausmacht durch Misstrauen und knallharte Taktik. Innerhalb der Partei herrsche „bis hinunter in die Ortsverbände eine Atmosphäre des Duckens und der Ängstlichkeit“. Selbst unter gestandenen Bundestagsabgeordneten kursiere die Ansage: „Mutti kritisiert man nicht.“
Küchenkabinett aus Getreuen
Das Küchenkabinett aus einer Handvoll Getreuen und Strippenziehern indes, das Merkel in Berlin berät und abschottet, wird auch im Süden Deutschlands höchst skeptisch beurteilt: „Das sind überwiegend Leute, die im Studium mal nach Berlin gekommen sind, jetzt im Prenzlauer Berg wohnen und schwarz-grünen Träumen nachhängen“, lästert ein Unions-Stratege. „Die haben längst vergessen, wie die konservativen Stammwähler in der Provinz ticken.“
Markus Jox/Angela Böhm