Müssen 500 000 Kinder in Ostafrika verhungern?
Die Lage ist weit katastrophaler als Experten erwartet hatten. Viele Betroffene, vor allem in Somalia, sind schon zu schwach, um es überhaupt noch in die Lager zu schaffen – es fehlt an allem.
MÜNCHEN - Fliegen setzen sich auf ihrenGesichtern ab, die Rippen treten an den kleinen Oberkörpern hervor, die Haut hängt schlaff herunter. Wenn sie nicht zu erschöpft sind, weinen sie vor Hunger: Die Kinder sind die Schwächsten und deshalb die am stärksten Betroffenen der Katastrophe am Horn von Afrika. Das Ausbleiben mehrerer Regenzeiten sorgte für die schlimmste Dürre seit 60 Jahren – die Welt steht vor einer neuen Hungerkatastrophe.
Laut dem UN-Kinderhilfswerks Unicef sind rund 500 000 Kinder vom Tod bedroht. Die Katastrophe in Ostafrika ist seit gestern auch ganz offiziell eine „Hungersnot“ und nicht mehr nur eine „Notsituation“. Uno-Koordinator Mark Bowden: „Das ist wegen der schockierenden Schwere der Lage in Somalia nötig geworden.“ Eine Hungersnot wird dann ausgerufen, wenn 30 Prozent der Kinder unterernährt sind und pro Tag mehr als zwei pro 10 000 Einwohner verhungern. In Teilen Südsomalias sind es sechs. Laut Unicef brauchen bereits zwei Millionen Kinder Hilfe. „Es werden weitere vier oder fünf Monate vergehen, bevor es überhaupt eine Ernte geben kann“, sagt Unicef-Chef Anthony Lake. „Was wir hier erleben, ist fast so etwas wie der perfekte Sturm: der Konflikt in Somalia, die steigenden Benzin- und Lebensmittelpreise, dazu Dürre und der ausbleibende Regen.“
Allein im größten Flüchtlingslager der Welt, im kenianischen Dadaab, warten 400 000 Menschen auf Hilfe. Das 50 Quadratmeter große Camp in der Wüste ist völlig überfüllt, es ist nur für 90 000 Menschen gedacht. Die Hilfsorganisationen tun alles, um die Menschen mit dem Notwendigsten zu versorgen, doch die Kapazitäten reichen nicht für alle. Vor allem die Kleinsten haben zu leiden. Viele sterben in den ersten 24 Stunden nach der Ankunft, sie sind schon zu schwach, um noch aufgepäppelt werden zu können. „Ich habe eine schwierige Situation erwartet, aber nicht so eine katastrophale“, sagt Anita Sackl, die für Ärzte ohne Grenzen arbeitet. In einem Monat behandeln die Mediziner in Dadaab rund 1600 Kinder mit schwerer und akuter Mangelernährung. Im äthiopischen Flüchtlingslager Dolo Alo sind mehr als die Hälfte der Kinder unterernährt.
Doch es sind nicht nur die Kinder und Erwachsenen in den Lagern, die dringend Hilfe benötigen. Hilfslieferungen müssen auch in die betroffenen Länder gebracht werden, denn viele Somalier, Äthiopier und Kenianer sind zu schwach, um den strapaziösen Weg in die Lager überhaupt anzutreten. Insgesamt elf Millionen Menschen in der Region sind hilfsbedürftig. Es fehlt an Nahrung, medizinischer Versorgung – und an Geld für alles.
1,1Milliarden Eurowerden benötigt, bisher sind 200 Millionen eingegangen. Viele Staaten, wie Italien, sagen, sie hätten gerade kein Geld flüssig. Die Hilfsorganisation Oxfam rechnet, dass für 40 Euro genug Trinkwasser für 175Menschen für einen Tag bereitgestellt werden kann. Von 80 Euro kann eine sechsköpfige Familie zwei Wochen leben. Die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) hat für Montag ein Krisentreffen einberufen, um mehr Geld einzusammeln. Großbritannien will 60 Millionen Euro spenden, Deutschland stockte seine Hilfe auf fünf Millionen Euro auf. Zugleich riefen Außenminister Guido Westerwelle und Entwicklungsminister Dirk Niebel die Bürger auf, für die Menschen in Ostafrika zu spenden.
Bettina Schulte ist 30 Jahre und arbeitet für die UNO-Flüchtlingshilfe UNHCR und lebt seit neun Monaten in Dadaab. Sie berichtet von der Not im größten Elendscamp der Welt.
AZ: Wie ist die Lage in Dadaab?
BETTINA SCHULTE: Die Situation hier ist erschreckend. Die drei Lager Hagadera, Ifo und Dagahaley platzen aus allen Nähten. Das muss man sichmal vorstellen, im letzten Monat hatten wir allein 30 000 Flüchtlinge, die Zahl der Neuankömmlinge seit Anfang des Jahres hat sich verdreifacht.
Aber gibt es nicht noch ein zusätzliches Lager, Ifo II?
Kenia hat das Lager zwar für eröffnet erklärt, aber bis es soweit ist, wird es dauern. Die Menschen warten draußen vor den Lagern.
Was machen Sie dann?
Wir gehen aktiv in die Orte außerhalb der Lager. Dort leben tausende Flüchtlinge, aber es ist schwierig, dort ist natürlich nichts strukturiert. Die Menschen, die dort auf Hilfe warten, sind registriert, aber anders als im Lager gibt es keine Krankenstationen und Schulen. Wir müssen auch dort eine Art Infrastruktur aufbauen.
An was fehlt es im größten Flüchtlingslager der Welt?
Wir brauchen Geld. Ohne Geld können wir keine humanitären Bedingungen für die Menschen schaffen. Es fehlt an Essen, Wasser, Wassertanks, Lehrern, Latrinen und Hütten. Und was wir dringend benötigen, ist zusätzliches Land. Selbst wenn Ifo II eröffnet wird, leben immer noch 30 000 Flüchtlinge außerhalb der Lager. Und es werden immer mehr, täglich kommen 1300 hinzu. Die lokale Bevölkerung muss grünes Licht geben und das Land zur Verfügung stellen.
Wer sind die Betroffenen?
Unter den Neuankömmlingen sind meist Mütter und Kinder. Die restlichen Verwandten warten oft an der Grenze, Hauptsache, die Frauen und die Kleinen bekommen erst einmal Hilfe. Sie kommen völlig erschöpft an und sind total verstaubt. Sie haben ja oft einen Fußmarsch von zehn bis zu 20 Tagen bis Dadaab hinter sich. Die meisten Kinder haben nicht einmal Schuhe und laufen barfuß.
Wie ergeht es den Flüchtlingen auf ihrem Weg nach Dadaab?
Die Not ist groß. Sie haben während der Flucht oft nichts zu essen und zu trinken. Wie dramatisch die Lage ist, zeigt sich auch daran, dass sie jetzt am helllichten Tag über die Grenzen gehen, die ja eigentlich geschlossen sind. Vorher kamen sie meist nachts. Die Erleichterung ist riesengroß, wenn sie hier endlich ankommen. Und trotz der katastrophalen Lage ist die Solidarität zwischen den Menschen beeindruckend. Sie bieten anderen Flüchtlingen Platz in ihren kleinen Hütten an.
Das Flüchtlingslager gibt es seit 1991. Gab es schon vergleichbare Situationen?
Die jetzige Situation der Dürrekatastrophe ist natürlich noch dramatischer. Aber wir dürfen nicht vergessen: Selbst wenn die Dürreperiode vorbei ist, werden immer noch zehntausende Somalier kommen, denn an der Situation im Land ändert sich nichts. Wichtig ist es, Strukturen aufzubauen, damit diese Menschen eine Zukunft haben. Damit ist auch die Bildung gemeint: Hier kommen auf einen Lehrer 120 Schüler. Wir haben hier 8000 Enkelkinder, deren Eltern selbst in dem Lager geboren sind.
Was wünschen Sie sich von der Weltgemeinschaft?
Das Positive ist, dass die Welt jetzt auf Dadaab und die Menschen in Ostafrika blickt. Jeder soll sehen, was für eine Dramatik hier herrscht.
Die Spendenkonten:
Uno-Flüchtlingshilfe
Spendenkonto 2000 88 50, Sparkasse Köln-Bonn, BLZ 370 501 98, Stichwort: „Hungersnot Somalia“
Ärzte ohne Grenzen
Konto 97 0 97, Bank für Sozialwirtschaft, BLZ 370 205 00, Stichwort : „Horn von Afrika und andere“
Cap Anamur – Deutsche NotÄrzte e.V.
Sparkasse KölnBonn, Kontonummer 2 222 222, BLZ 370 501 98, Stichwort: „Somalia“
Unicef Deutschland e.V.
Spendenkonto 300 000, Bank für Sozialwirtschaft Köln, BLZ 370 205 00, Stichwort: „Ostafrika“
Welthungerhilfe
Kontonummer 1115, Sparkasse KölnBonn, BLZ 370 501 98, Stichwort: „Dürre Ostafrika“
Aktion Deutschland hilft
Konto 10 20 30, Bank für Sozialwirtschaft ,Bankleitzahl 370 205 00, Kennwort: „Ostafrika“
Oxfam Deutschland e.V.
Spendenkonto 13 13 13, Bank für Sozialwirtschaft Köln, BLZ 370 205 00, Stichwort: „Nahrungsmittelkrise Ostafrika“
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