Münchner Generalkonsul der Ukraine: "Jemand muss Putin stoppen – und wir versuchen es"

München - AZ-Interview mit Yuriy Yarmilko: Der Diplomat (*1958) ist seit 2018 Generalkonsul der Ukraine in München. Von 2007 bis 2012 war er hier auch in diesem Amt tätig.
AZ: Herr Yarmilko, Altkanzler Gerhard Schröder hat gerade in einem Interview behauptet, Russland sei im Angriffskrieg gegen Ihr Land zu Verhandlungen bereit - und indirekt für einen Gebietsverzicht der Ukraine plädiert. "Widerwärtig", sagt Ihr Präsident Wolodymyr Selenskyj dazu - was sagen Sie?
YURIY YARMILKO: Zunächst ein kleiner Diskurs: Ich bin kein Politiker und unser Konsulat ist keine politische Institution. Wir betreuen ukrainische Staatsbürger. Trotzdem: Ich finde weder die Äußerungen von Herrn Schröder richtig, noch, dass er nach Moskau fährt und mit Wladimir Putin verhandelt und auch nicht, dass er Geld von Gazprom bekommt. Solche Vermittler brauchen wir in der aktuellen Situation nicht.
Welche Vermittler brauchen Sie dann?
Vermittler, die wirklich daran interessiert sind, dass es zum Frieden kommt - aber nicht zu den Bedingungen Russlands, sondern zu unseren. Wir können nicht damit einverstanden sein, dass wir circa 20 Prozent unseres Territoriums verlieren. Das bringt nichts. Putin wird weitermachen. Womöglich nicht heute oder morgen, aber vielleicht in einem Jahr. Deswegen hat unser Präsident absolut deutlich gemacht, dass wir unser Territorium befreien werden und dann bereit sind für ein Friedensabkommen.
"Man kann diesem Feind nur im Rahmen der Nato widerstehen"
Die Vereinten Nationen und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan haben beim Getreide-Abkommen vermittelt. Wären sie auch als Friedensstifter denkbar
Warum nicht? Die Uno oder eine andere internationale Organisation wäre sehr gut. Aber leider spielen die internationalen Organisationen in diesem Krieg keine starke Rolle. Gut, im Fall des Getreide-Abkommens hat es jetzt funktioniert, und Herr Erdogan versucht, weiter zu vermitteln. Er ist ein wichtiger Politiker, der mit Putin sprechen kann, was derzeit ja nicht so üblich ist - und wir haben gute Beziehungen zur Türkei: Wir sind Nachbarn am Schwarzen Meer und sie liefert uns die Bayraktar-Drohnen und hilft uns damit. Entscheidend ist jedoch, dass es nicht Verhandlungen um der Verhandlungen willen gibt - sondern über eine Lösung des Problems.
Beim Treffen zwischen Erdogan und Putin in Sotschi soll es unter anderem um diese Drohnen gegangen sein. Wird die Türkei sie auch an Russland verkaufen?
Ich hoffe nicht.
Ist militärische Neutralität noch eine Option für die Ukraine?
Nein. Sie kam vielleicht in der Vergangenheit infrage. Aber jetzt ist sie unmöglich.
Warum?
Weil wir diesen Krieg haben. Mir fällt dazu ein Zitat ein: Demokratie ist eine schlechte gesellschaftliche Ordnung, aber etwas Besseres gibt es nicht. Übertragen auf die Nato könnte man sagen: Dieses Bündnis ist nicht ideal, aber etwas Besseres gibt es zur Zeit nicht. Putin wollte, dass sich die Nato nicht bis zur russischen Grenze ausdehnt - und bekommt nun das genaue Gegenteil: Schweden und Finnland hätten noch jahrzehntelang neutral bleiben können. Aber sie gehen jetzt in die Nato, weil sie die konkrete Bedrohung vonseiten des großen Nachbarn vor Augen haben. Dasselbe gilt für uns. Man kann nur im Rahmen der Nato diesem großen mächtigen Feind widerstehen. Wir hätten schon 2008 näher an die Nato heranrücken können.
Wenn die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy nicht ihr Veto gegen die Ost-Erweiterung eingelegt hätten.
Es gibt keinen Konjunktiv in der Weltgeschichte - aber ich bin mir sicher, dass, wenn wir und Georgien damals in die Nato aufgenommen worden wären, es weder den Krieg in Georgien noch den bei uns gegeben hätte.

Sechs Jahre später annektierte Russland die Krim. Hätte eine schärfere Reaktion der internationalen Gemeinschaft den aktuellen Krieg verhindern können?
Ja. Es war zu wenig, die Annexion formell nicht anzuerkennen. Man hätte schon damals härtere Sanktionen verhängen sollen - nicht nur wirtschaftliche, sondern auch persönliche, zum Beispiel gegen die sogenannten Oligarchen. Möglich wäre auch gewesen, Russland aus allen internationalen Organisationen auszuschließen. Die Weltgemeinschaft hätte zeigen müssen, dass so etwas im 21. Jahrhundert inakzeptabel ist. Formell waren alle auf unserer Seite, aber die Reaktion war zu schwach: tiefe Besorgnis - und dann nichts mehr. Jetzt steht das ganze Weltsicherheitssystem unter Bedrohung. Wir wissen alle aus der Geschichte, welches Ende der Völkerbund in den 1930er Jahren genommen hat. Ich hoffe sehr, dass sich die Geschichte am Beispiel der Uno nicht wiederholt.
Sie spielen darauf an, dass die Uno in Bezug auf die Ukraine handlungsunfähig ist, weil Russland ein Vetorecht im Sicherheitsrat hat.
Ja, das ist das Problem. Die Ukraine hat darauf schon vor dem Krieg mehrmals hingewiesen und Reformen gefordert. Wenn Russland das gesamte Sicherheitssystem bedroht und trotzdem ein Vetorecht hat, stimmt doch etwas nicht.
Welche Reaktionen der Uno würden Sie sich denn wünschen?
Ausschluss des Aggressors aus dem Sicherheitsrat oder wenigstens Wegnahme des Vetorechts, Friedenstruppen mit robustem Mandat, Vermittlungsversuche vom ersten Tag an. Es gibt viele mögliche Schritte. Resolutionen sind wichtig - aber die Russen verwenden entweder ihr Veto oder halten sich einfach nicht an die Beschlüsse.
Die Ukraine zu überrollen hat nicht funktioniert, eine Besetzung scheint unmöglich. Was will Putin eigentlich?
Er hat einmal gesagt, der Zerfall der Sowjetunion sei die größte geopolitische Katastrophe in der Geschichte gewesen, und will sie nun in irgendeiner Form wiederaufbauen. Er will nicht akzeptieren, dass die Ukraine selbstständig ist, unabhängig, ein demokratisches Land. Die Idee war, uns zu erobern. Belarus steht praktisch total unter russischem Einfluss. Hinzukommen könnten Kasachstan und vielleicht alle ehemaligen Sowjetrepubliken. Er wollte als Zar in die Geschichte eingehen, als Sammler der russischen Länder. Aber ich bin sicher, dazu wird es nicht kommen.
Die Bundesregierung hat lange gezögert, der Ukraine schwere Waffen zu liefern. Haben Sie Verständnis für das Abwägen des Kanzlers?
Wir bekommen jetzt viele Waffen von der Bundesrepublik und sind dafür sehr dankbar. Ich glaube, dass auch in Berlin schnell klar war, dass wir uns ohne solche Lieferungen nicht schützen können. Und es geht ja nicht nur um uns. Wir schützen die ganze westliche demokratische Welt vor Altertum und Barbarei. Insofern: besser spät als nie.
Was wird aktuell besonders dringend benötigt?
Offizielle Anträge liegen der Bundesregierung vor. Grundsätzlich werden Flugzeuge, Flugabwehrsysteme, Artilleriesysteme, weitere schwere Waffen benötigt. Es gibt im Moment keine diplomatische Lösung für diesen Konflikt. Jemand muss Putin stoppen - und wir versuchen, das zu tun.
Derzeit sorgt die Situation rund um das Atomkraftwerk Saporischschja für höchste Besorgnis, allerdings ist die Nachrichtenlage dünn. Was genau passiert dort?
Es droht eine Atom-Katastrophe, schlimmer als Tschernobyl. Die Russen haben das Kraftwerk erobert, es wurde bereits zwei Mal beschossen und wir haben Beweise dafür, dass es die Russen waren. Deswegen hat unser Präsident die Weltöffentlichkeit informiert und darum gebeten, weitere Sanktionen zu verhängen. Die Situation ist absolut gefährlich: Über das größte Atomkraftwerk Europas fliegen russische Raketen.
Eigentlich ist es Usus, dass Diplomaten das aktuelle politische Geschehen nicht kommentieren. Warum tun Sie es?
Normalerweise haben in der Ukraine nur der Präsident und der Außenminister das Recht, offizielle außenpolitische Statements zu machen. Aber wir haben Krieg. Meine Kollegen und ich wollen dem deutschen Volk und aller Welt erzählen, was bei uns geschieht. Wir kämpfen gegen einen mächtigen Feind und brauchen die Hilfe der Weltöffentlichkeit. Es gibt für uns keine Alternative zu einem Sieg in diesem schrecklichen Krieg - und ich glaube, das ist im Interesse der ganzen Welt.
Botschafter Andrij Melnyk war die bisher lauteste Stimme der Ukraine in Deutschland. Dann sagte er, der Nationalist Stepan Bandera sei "kein Massenmörder von Juden und Polen" gewesen - und wurde abberufen. Wie sehen Sie Bandera, der 1959 in München von einem KGB-Agenten ermordet wurde?
Was Herrn Melnyk anbelangt: Er hat versucht, das Maximale für die Ukraine zu tun. Was Bandera betrifft: Er ist keine eindeutige Figur in der ukrainischen Geschichte, und es ist kein Geheimnis, dass die Meinungen über ihn im Osten und Westen der Ukraine auseinandergehen. Aber trotz allen Streits über diese historische Figur ist es natürlich inakzeptabel, dass wir im Laufe der letzten zehn Jahre 14 Fälle von Vandalismus an seinem Grab auf dem Münchner Waldfriedhof erlebt haben.
"Mariupol sieht schlimmer aus als Stalingrad"
Bandera wird von vielen Seiten instrumentalisiert, auch von Russland, das ihn als Beleg dafür anführt, dass in der Ukraine Faschisten am Werk sind. Hat man womöglich versäumt, seine Rolle wissenschaftlich richtig aufzuarbeiten?
Auch. Meiner Meinung nach muss die Figur Bandera und ihre Rolle in der Geschichte von Historikern statt Politikern betrachtet werden.
Was erzählen Ihnen die Menschen, die sich an Ihr Konsulat wenden?
Dramatische Geschichten. Eine Dame hat mir berichtet, wie sie in einer Ortschaft bei Butscha 30 Tage im Keller saß. Es gibt schreckliche Geschichten aus Charkiw und schreckliche Geschichten aus Mariupol. In Mariupol sind 95 Prozent der Häuser zerstört. Es sieht schlimmer aus als Stalingrad nach dem Zweiten Weltkrieg.
Mittlerweile sind bis zu 200.000 Menschen aus der Ukraine nach Bayern geflüchtet. Wie können Sie ihnen helfen?
Zunächst einmal möchte ich an dieser Stelle unbedingt dem Freistaat Bayern für seine Solidarität danken. Was uns angeht: Etwa 100.000 Menschen sind ohne ihre Reisepässe gekommen. Auf den Behörden hier werden die aber benötigt. Würden wir Tag und Nacht nur daran arbeiten, neue Pässe auszustellen, würden wir drei Jahre brauchen, bis jeder einen hat. Also mussten wir andere Lösungen finden: Wir tragen Kinder in den Pass der Mutter ein, verlängern vorhandene Reisepässe, und für diejenigen, die überhaupt nichts oder nur einen Personalausweis haben, stellen wir eine Bestätigung über die Staatsangehörigkeit aus und das wird von den Behörden auch akzeptiert.
Die Solidarität der Menschen in Deutschland ist groß. Haben Sie Sorge, dass die Stimmung aufgrund von Inflation und Energiekrise umschlagen könnte?
Wenn man sich jetzt die Nachrichten anschaut, geschieht, was vor zwei oder drei Monaten undenkbar war: Die Ukraine ist nicht mehr immer die erste Meldung, sie kommt - was journalistisch logisch ist - zum Beispiel nach Nahost-Konflikt und Gas-Krise. Oder sehen Sie sich die Wohnsituation an: Viele Menschen sind für ein paar Monate bei Privatpersonen untergekommen und suchen jetzt nach einer eigenen Wohnung. Das ist eine schwierige Situation, besonders in München. Aber wir hoffen, dass das Interesse der Politik und der Menschen an der Ukraine nicht erlahmt und die enorme Solidarität nicht nur eine kurzfristige Welle war. Für uns ist sie absolut notwendig.