Münchens Alt-OB Christian Ude im Interview mit der AZ: Meine Abrechnung
München - Die AZ hat mit Christian Ude gesprochen. Der 69-jährige SPD-Politiker war von 1993 bis 2014 Münchner Oberbürgermeister. Er trat 2013 bei der Landtagswahl als Spitzenkandidat seiner Partei an und holte 20,3 Prozent der Stimmen. Ude wohnt mit seiner Frau Edith von Welser-Ude in Schwabing.
AZ: Herr Ude, in Ihrem neuen Buch, das an diesem Montag erscheint, geht es viel um die Arroganz der Machthaber und die Ohnmacht der Arglosen. Ist es ein Mutmach-Buch für Letztere?
CHRISTIAN UDE: Ja, die Anstöße für mich, dieses Buch zu schreiben, haben überhaupt nichts mit Parteipolitik zu tun. Ich bin ein Freund der demokratischen Parteien, die in Deutschland unglaublich viel geleistet haben, sich aber zur Zeit unter Wert verkaufen und gegenseitig schlechtmachen, dass es nicht mehr feierlich ist. Die Politik ist unglaublich in Misskredit geraten, obwohl wir Deutschen weltweit beneidet werden, wenn es um unsere Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geht. Da habe ich mich gefragt: Wie kommt das? Zu den Antworten gehört, dass die Parteien keinen Mut zur Politik haben.
Beispiele, bitte!
Die Kanzlerin sagt, dass das, was sie macht, alternativlos sei. Oder sie hat die Strategie der asymmetrischen Demobilisierung. Es kommt nicht mehr darauf an, die demokratischen Kräfte zu mobilisieren, was einmal ein Motto von Waldemar von Knoeringen (bayerischer SPD-Politiker, im Widerstand gegen die Nationalsozialisten aktiv) war. Die Strategie ist die Einschläferung der Demokratie. Und das in einer Zeit derart kritischer Fragen und gefährlicher Entwicklungen.
Kann man dieses Verhalten tatsächlich nur an der Kanzlerin festmachen?
Nein, aber Bundeskanzlerin Angela Merkel steht für zwei Worte: Alternativlosigkeit und Demobilisierung. Aber da kommt die Anschlussfrage: Eigentlich wäre es die Aufgabe der Opposition, die Bevölkerung wachzurütteln.
Das ist wie in der Fußball-Bundesliga: Alle beklagen die Übermacht des FC Bayern, aber eigentlich wäre es die Aufgabe der anderen, diese zu brechen.
Genau. Aber die Opposition bietet kaum Alternativen. Das ist eine These, die ich von Peter Gauweiler übernehme: Der Bundestag hat es versäumt, die großen Fragen, die die Welt bewegen, zu großen parlamentarischen Sternstunden zu machen. Die Frage der bewaffneten Einsätze der Bundeswehr, die Frage der Griechen-Hilfe, die Frage der Euro-Rettung, die Frage der Banken-Rettung, die Frage des Umgangs mit der Türkei – das wurde nie zu einem großen Thema gemacht, so wie etwa vor 50 Jahren die Frage der Ostverträge. Da gab es zwar auch keine Volksabstimmung, aber jeder wusste, die Bundestagswahl ist eine Volksabstimmung. Gewinnt Willy Brandt, wird es die Entspannungspolitik geben. Verliert er, wird es keine Ostverträge geben.
Dabei ist Politik vielleicht spannender und wichtiger denn je, weil es um grundsätzliche Fragen geht: Wie schaffen wir es, Wohlstand, Frieden und Demokratie zu erhalten? Fragen, die gerade auch viele junge Menschen bewegen.
Eine Beobachtung, die ich auch gemacht habe. Ich werde oft eingeladen, politische Debatten zu leiten. Da kommen Hunderte, 400 bei Gregor Gysi, 800 bei Jürgen Todenhöfer. Und in der eigenen Partei gibt es nur business as usual. Was mir das Kraut ausgeschüttet hat: Es gibt Menschen, die sich für Europa begeistern. Und wer nimmt diese Begeisterung auf? Keine Partei, sondern eine Bürgerinitiative. Mehr kann man sich doch nicht abmelden vom politischen Diskurs.
Christian Ude mit seinem neuen Buch "Die Alternative oder: Macht endlich Politik!" vor dem Originalbild von Rupprecht Geiger, das auch Vorlage für Wahlplakate des damaligen OBs war. F: Bernd Wackerbauer
Viele Menschen scheuen sich auch, den anstrengenden Weg als Parteisoldat zu gehen, von ganz unten bis in eine Position, von der aus sich etwas verändern lässt. Ist das so?
Es ist so, weil es zu wenig Einbeziehung gibt. Das politische Management reduziert sich auf Krisenmanagement. Es hat verlernt, große Fragen kontrovers zu diskutieren, zum Beispiel, was das Thema Türkei betrifft.
Absurd, leben doch sehr viele Türken hier und bestimmen die Entwicklungen in der Türkei seit vielen Monaten die Schlagzeilen in Deutschland.
Ein Problem ist, dass mit den Türken in Deutschland nie politisch diskutiert wurde. Deshalb haben wir jahrzehntelang nicht mitbekommen, wie sie denken. Das haben wir erst im Jahr des Referendums erfahren.
Ein Vorwurf, der den Türken – wie anderen Muslimen hierzulande – gemacht wird, ist die fehlende öffentliche Verurteilung des Terrorismus.
Zuerst einmal: Kein Moslem, der friedlich in Deutschland lebt, hat die Verpflichtung, sich öffentlich vom Terror zu distanzieren. Aber wenn der Name Allahs so verbrecherisch missbraucht wird, wie es bei jedem Terroranschlag der Fall ist, dann muss doch ein gläubiger Moslem aus ureigenstem Interesse klarstellen wollen, dass hier seine Religion, der Islam, zu Unrecht am Pranger steht. Dass dann ausgerechnet Ditib, die staatliche geförderte Organisation der Türken in Deutschland, sich nicht an einer Demonstration gegen den Terror beteiligt, sondern nur sagt: Im Ramadan tun wir so etwas nicht – dieses Verhalten wirft dann in der Bevölkerung doch erst die Frage auf: Sind die am Ende damit einverstanden, dass Allahs Name für Verbrechen benutzt wird? Da muss man sich schon wundern. Aber natürlich ist kein untadeliger Muslim in Deutschland zu irgendetwas verpflichtet.
Genauso wie kein untadeliger Deutscher verpflichtet ist, sich von irgendwelchen Verbrechen Deutscher, sei es zum Beispiel des NSU, zu distanzieren.
Genau, einen Distanzierungszwang von Neonazi-Verbrechen gibt es natürlich ebenso wenig. Aber wenn es in einem Fußballverein eine gewalttätige Fangruppe gibt, dann wird der Verein, das Präsidium, die Mannschaft, die friedliche Anhängerschaft alles tun, um klarzustellen: Ihr habt mit uns und unserem Anliegen nichts zu tun, sondern ihr schädigt unseren Ruf. Pfui Teufel! Man wehrt sich gegen den Missbrauch des eigenen Namens. Besonders, wenn man so empfindlich ist, dass man schon wegen einer einzigen Mohammed-Karikatur aus dem Häuschen gerät und zu Hunderttausenden dagegen demonstriert.
Anderes Thema: Herr Ude, was ist Ihre Prognose für die Bundestagswahl? Eine schwere Frage, zugegeben.
Jede Prognose zum jetzigen Zeitpunkt kann nur von einem Ahnungslosen stammen. Wir wissen doch seit Großbritannien und den USA, dass selbst Meinungsforschungsinstitute nur im Nebel herumstochern.
Was würde Ihrer Meinung nach die Fortführung der Großen Koalition bedeuten? Für viele ist dies ja geradezu ein Schreckgespenst.
Es ist zumindest ein demokratisch unbefriedigender Zustand. Es ist ja kein Zufall, dass in den 60er Jahren die beiden anderen "Alternative"-Bücher gegen die Große Koalition geschrieben wurden: von Martin Walser ("Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung", 1961) und von Hans Werner Richter, dem Gründer der Gruppe 47 ("Plädoyer für eine neue Regierung, oder: Keine Alternative", 1965). Weitere vier Jahre Große Koalition wären nicht der Untergang, aber sie wären eine arge Strapazierung der demokratischen Selbstverständlichkeiten, zu denen die Alternative und der Wechsel gehören.
Eine Alternative wäre Schwarz-Gelb.
Schwarz-Gelb wäre desaströs. Was dieses Bündnis an Versäumnissen und an sozialem Sprengstoff hinterlassen hat, das ist nicht mehr feierlich. Die FDP hat sich zwar etwas gebessert, aber trotzdem wird gleich wieder der Mindestlohn auf die Hörner genommen. Für mich ist auch eher die Frage: Jamaika oder Rot-Rot-Grün? Und da könnte ich mir schon vorstellen, dass wir demnächst melancholisch an die Große Koalition denken werden. Denn beide Dreierbündnisse halten neue Unvereinbarkeiten bereit.
Welche?
Solange die Linke vom Ehepaar Lafontaine dressiert wird, das Rache üben will für Vorgänge der frühen Schröder-Jahre, sehe ich nicht, wie es bei Rot-Rot-Grün realistisch laufen soll. Ich kann mir die Linke als Teil der Regierung einer großen westeuropäischen Nation nicht vorstellen. Ebenso wenig die Liberalen übrigens im Falle von Schwarz-Gelb. Beides wären Koalitionen, die unglücklich laufen würden, weil es im Regierungslager zu Konflikten kommen würde, die wir bisher in der bundesdeutschen Geschichte noch nicht hatten.
Gehen wir zum Schluss bitte noch die Spitzenkandidaten durch. Was fällt Ihnen zu Bundeskanzlerin Angela Merkel ein?
Da ich 21 Jahre Stadtoberhaupt war, kann ich schwer etwas gegen Merkels lange Regierungszeit sagen. Im Gegenteil: Ich konnte viele Entscheidungen erst in meiner letzten Amtsperiode durchbringen, auch als Städtetagspräsident. Zum Beispiel die Rettung der Gewerbesteuer. Ansonsten finde ich bei Bundeskanzlerin Angela Merkel beeindruckend, mit welcher Nervenkraft sie alle möglichen Krisen und Strapazen durchsteht. Da kann ich nicht den geringsten Verschleiß feststellen.
Martin Schulz?
Den kenne ich seit vielen Jahren, ich bin ein langjähriger Martin-Schulz-Fan. Ich habe ihn erlebt, wie er auf der Klaviatur europäischer Politik spielt. Da ist es geradezu absurd, ihm fehlende Regierungserfahrung vorzuwerfen. Außerdem kenne ich ihn als Wahlkämpfer, der mir in großen Bierzelten geholfen hat. Und ich kenne ihn von gemeinsamen internationalen politischen Auftritten, zum Beispiel in Italien, wo mir wirklich die Spucke wegblieb, wie blitzschnell und souverän er Fragen auf Italienisch in italienischer Sprache, Fragen auf Englisch in englischer Sprache und Fragen auf Französisch in französischer Sprache beantwortet hat.
Das grüne Spitzenduo Cem Özdemir und Katrin Göhring-Eckardt?
Der Schwund bei den Grünen wundert mich nicht, es ist ein Personalproblem. Wobei mir an Özdemir imponiert, dass sich ein türkischstämmiger Parteivorsitzender derart kritisch mit der Türkei auseinandersetzt. Das zeugt von innerer Unabhängigkeit. Von Katrin Göhring-Eckardt kenne ich nur taktische Winkelzüge, Profil kann ich nicht erkennen.
Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht von der Linken?
Bartsch ist wie Bodo Ramelow ein seriöser Pragmatiker, der sicher auch regierungsfähig ist. Die Linke wäre vor allem im Osten um viele Prozentpunkte stärker, wenn der intellektuelle Witz eines Gregor Gysi noch vorhanden wäre. Mit dem Zorn und der Verbitterung von Oskar Lafontaine und der Realitätsverweigerung von Sahra Wagenknecht wird die Partei es schwer haben.
FDP-Chef Christian Lindner?
Ein großes Talent, das sich wohltuend von der Partei abhebt, die nur noch die Partei der Spitzenverdiener sein wollte. Andererseits ist es ihm nicht gelungen, andere Themen glaubwürdig zu verkörpern. Er sollte sich von seinen Werbeleuten emanzipieren, die ihn zum Schluss zu einer Werbefigur machen werden, die auch Herrenkonfektion oder Rasierwasser verkaufen kann.
Alexander Gauland und Alice Weidel von der AfD?
Die AfD war eine Professorenpartei in ihrer Geburtsstunde, was man beinahe vergessen hat. Die hätten die Chance gehabt, bei der Sozialdemokratisierung der Merkel-CDU eine konservative Alternative zu bilden. Aber zwei Putsche haben dieses Vorhaben beerdigt. Erst der Putsch mit Petry gegen Lücke, dann der Putsch gegen Petry, jeweils gefolgt von einem strammen Rechtsruck. Allein, dass das Problem Höcke nicht längst gelöst ist, macht diese Partei unwählbar.
In seinem Werk "Die Alternative oder: Macht endlich Politik!" geht Ude mit den Parteien hart ins Gericht. Foto: B. Wackerbauer
Der Alt-OB findet bei der Kritik an den entfesselten Finanzmärkten oder den überzogenen Gehältern der Spitzenmanager klare Worte – aber er zeigt auch, wie die Menschen die Zustände ändern können.
Für Christian Ude ist klar: Die Menschen müssen – so wie hier bei einer Demo auf der Ludwigstraße – ihr politisches Schicksal wieder mehr in die eigenen Hände nehmen. Fotos: dpa
Der Markt kann alles – oder: Vom Weltenlenker zu den Lehman Brothers
Die ehemalige Zentrale der Pleitebank Lehman Brothers in New York.
Es waren nicht nur die Betreiber der deutschen Einheit, der europäischen Friedensordnung und der Gemeinschaftswährung, sondern auch viele Wirtschaftslenker nebst wissenschaftlichen und parlamentarischen Groupies, welche die Völker Europas mit unglaublichen Versprechungen besoffen redeten, bevor sie einen Absturz hinlegten und dem eben noch ehrfürchtig staunenden Publikum Steuermilliarden zur Schadenslinderung abknöpften. Seit Maggie Thatcher und Ronald Reagan haben die Wirtschaftskapitäne aller Länder vereint die Deregulierung zugunsten ihrer Handlungsfreiheit, vor allem die Entfesselung der Finanzindustrie, gefordert, die Privatisierung staatlicher Unternehmen, kommunaler Stadtwerke und Wohnungsbestände verlangt, aber auch Kostensenkungen im Lohnsektor – Managergehälter ausgenommen, weil man die vervielfachen musste, um in Zeiten der Globalisierung mit dem amerikanischen Gehaltsniveau konkurrieren zu können. (...)
Viele Dax-Unternehmen – sogar in München, wo der Wohnungsmangel Tradition hat – haben ihre Wohnungsbestände – ganze Straßenzüge und Häuserblocks – verscherbelt, um stattdessen "höchst lukrative" Subprime-Papiere auf dem US-Markt zu kaufen, deren Bündelung in unleserlichen Papierstapeln sie selber nicht verstanden. "Wir müssen das tun", sagten mir damals alle Personalchefs, die ich auf die Absurdität ihres Treibens hingewiesen hatte, "denn wir stehen unter der Kontrolle der Finanzmärkte! Wenn wir nicht höhere Renditen erzielen, als auf dem Wohnungsmarkt mit lächerlichen drei oder vier Prozent möglich sind, machen uns die Analysten zu Übernahmekandidaten!" Kurze Zeit später hatten sie ihre Erlöse aus dem Verkauf real existierender Immobilien verspielt, und seitdem jammern sie in den Rathäusern aller Wachstumsregionen herum, ohne ausreichendes Wohnungsangebot könnten sie keine Fachkräfte mehr in die Stadt locken oder mietbedingte Gehaltsforderungen erfüllen. Zauberlehrlinge!
Das Resultat der marktradikalen Jahre der "Finanzindustrie", deren Name ja schon eine unglaubliche Hochstapelei ist, da sie in Wahrheit nichts "produziert", ist bekannt: Die von ihr im Blindflug ausgelöste größte Finanzkrise der Nachkriegszeit hätte die Realwirtschaft, zu der man zwischenzeitlich jeden Bezug verloren hatte, um ein Haar mit in den Abgrund gerissen, wenn nicht die Steuerzahler mit Milliarden und Abermilliarden zu Hilfe geeilt wären. Das ist jetzt eine Reihe von Jahren her, aber noch nicht lange genug, um neben ein paar verbesserten Kontrollmechanismen ernsthafte Konsequenzen zu ziehen. Nach dem Schock mit den Lehman Brothers waren sich alle einig, dass man ausreichend Vorsorge treffen müsse, damit das nächste Bankendesaster der Milliardenjongleure von der Bankenwelt selber aufgefangen werden kann und nicht noch einmal der kleine, dumme Steuerzahler geschröpft wird, bloß weil praktisch jedes Geldinstitut "too big to fail" ist. Mit dieser dreisten Formel wurde ja die Plünderung der Staatskassen gewissermaßen zur Rettung des Gemeinwohls umgedeutet: Wie nett und sozial von euch, mit eurer Pleite nur die Staatskasse und nicht alles zu ruinieren!
Alle Wahlkampfjahre wieder: Es geht um Gerechtigkeit!
Hat auch heute noch gut lachen: der ehemalige VW-Chef Martin Winterkorn.
Keine Partei behauptet, schon alles verwirklicht zu haben, was sie sich vorgenommen hat. Denn dann wäre sie ja überflüssig. Ich kenne aber keine andere Partei als die SPD, die mit solcher Hingabe 15 eigene Regierungsjahre in die Tonne tritt, das Ergebnis dieser langen Regierungszeit in finstersten Farben schildert und um Vertrauen bittet mit der Begründung, jetzt fühle sie sich den Opfern der Politik – wohlgemerkt ihrer eigenen – ganz nah und verbunden.
Wenn schon anstelle grundlegender Umverteilung nur Symbolpolitik betrieben werden soll, sollten wenigstens die Symbole mit Bedacht gewählt werden. Stichwort "Spitzengehälter". In derselben "Spiegel"-Ausgabe im Februar 2017, in der die SPD-Kritik an der finsteren Lage der Deutschen die tiefschwarze Titelseite beherrschte, erklärte im Inneren des Heftes der IG-Metall-Vorsitzende und VW-Aufsichtsrat Jörg Hofmann, wie es zum 17-Millionen-Euro-Jahresgehalt für Martin Winterkorn und zur 12,5-Millionen-Euro-Abfindung für das SPD-Mitglied Christine Hohmann-Dennhardt nach 13 Monaten im Dienste des Konzerns kommen konnte. Bei Frau Hohmann-Dennhardt hätten Zusagen von Daimler abgelöst werden müssen (ein Spielerkauf wie im Fußball gewissermaßen) und bei Winterkorn habe "die Kapitalseite" gesagt: "Lasst die Herren gut verdienen, dann machen sie auch einen guten Job." Die Kapitalseite? Spielt da nicht das Land Niedersachsen eine gewichtige Rolle?
Es ist also tatsächlich so: Die Gewerkschaften im Aufsichtsrat und das Land Niedersachsen drängen den Bundesgesetzgeber, endlich mit strengen Regeln und steuerlichen Strafen dafür zu sorgen, dass künftig keine aberwitzigen Gehälter und Abfindungen mehr vereinbart werden dürfen, weil sonst die öffentliche Hand und der starke Arm der Gewerkschaften nochmals im Aufsichtsrat für einen derartigen Skandal gehoben werden. Hier fragt sich der geneigte Leser, ob man das nicht viel schneller und einfacher hätte haben können – und ob Winterkorn und Hohmann-Dennhardt wirklich geeignet sind, den Volkszorn in die gewünschte politische Richtung zu lenken … Sage keiner, das habe man nicht ahnen können. Ich erinnere mich an etliche Gespräche, bei denen Hans-Jochen Vogel Gewerkschaftsvorsitzende in die Mangel nahm, warum sie denn in Aufsichtsräten unvorstellbaren Gehaltsforderungen zugestimmt hätten. Die Antworten waren wortkarg und substanzarm. Aber der nächste Deutsche Bundestag wird es bestimmt richten. Wenn es aber ausnahmsweise einmal nicht bei Symbolpolitik bleiben soll, muss man wirklich die Unsummen ins Visier nehmen, die den Reichsten weiterhin in den Schoß fallen oder rechtswidrig belassen werden.
Die Angst des Souveräns vor sich selber
Verstört die Welt regelmäßig: der seit Januar im Amt befindliche US-Präsident Donald Trump.
Die bitterste Pille zum Schluss: Der Souverän, der seine große Macht so ungern einsetzt und am liebsten leugnet, hat Angst. Eine schreckliche Angst vor schrecklichen Entwicklungen. Die Welt könnte noch mehr aus den Fugen geraten, liberale und offene Gesellschaften könnten noch mehr in die Defensive rutschen, die europäische Einigung scheitern, die Zahl autoritärer Regime weiter zunehmen mit Gefahren für die Pressefreiheit, die Freiheit von Forschung und Lehre, den Rechtsstaat. Aber wer bereitet uns diese Angst? Der Souverän. Das zur Selbstbestimmung berufene Wahlvolk. Das uns Europäern zu unserem ziemlich einhelligen Entsetzen Donald Trump als Präsident der Vereinigten Staaten beschert hat. Das in Großbritannien mit dem Brexit Europa für Jahre gelähmt und um Jahrzehnte zurückgeworfen hat. Das uns in Frankreich mit Marine Le Pen bedroht und in mittlerweile zahlreichen Ländern mit autoritären Figuren eingeschüchtert oder zumindest erschreckt hat. Das in Gestalt türkischer Migranten sogar in unserer Nachbarschaft an der Verwandlung der Türkei in ein autoritäres Regime mitgewirkt hat, prozentual stärker als in der Türkei selbst! Da helfen keine Verschwörungstheorie und kein Schwarzer-Peter-Spiel: Wir haben Angst vor Wahlergebnissen. (...)
Nein, die Alternative zum dramatischen Vertrauensverlust des demokratischen Betriebs und zur internationalen rechten Gefahr heißt: Lust auf Sachpolitik. Statt in Selbstzufriedenheit zu baden, sich moralisch überlegen zu fühlen oder die Lage mit grandiosen Verheißungen schönzureden, sollten alle politisch Verantwortlichen die zentralen Probleme wirklich benennen. Nicht Alternativlosigkeit predigen ist das Gebot der Stunde, sondern – im Gegenteil – echte Alternativen aufzeigen, damit der Bürger wieder ein Wahlrecht hat – zwischen verschiedenen Richtungen, nicht nur zwischen verschiedenen Logos, Slogans oder Gesichtern. Wieder politische Öffentlichkeit vor einer Entscheidung herstellen, damit der Bürger nicht nur Fertigprodukte der EU-Erweiterung, der Bundeswehreinsätze, der Bankenrettung, der Milliardenhilfe oder internationaler Sanktionen in den Medien serviert bekommt, sondern solche Aktionen als Ergebnis eines öffentlichen Diskurses oder sogar eines Plebiszites erlebt. Mühsam errungene Freiheiten sollten verteidigt, nicht zugewanderten religiösen Fundamentalismen oder autoritären Haltungen geopfert werden. Schließlich: Lernt ständig dazu, aber steigt dabei nicht aus der eigenen Geschichte aus, als sei man im Wahlkampf ein ganz anderer als in den Jahren davor.
Wir erwarten von der Politik, dass sie besser wird, nicht immer nur lauter, giftiger, spaltender, weltfremder. Also müssen wir sie alle gemeinsam besser machen. Also müssen wir uns einmischen. Jeder mit seinen Möglichkeiten. Und zwar so, dass dabei Probleme wirklich gelöst und dass Abstimmungen auch respektiert werden. Macht also endlich wieder Politik! Schaffen wir eine politische Kultur, die wir auch selbst erleben wollen.
"Die Alternative oder: Macht endlich Politik!" von Christian Ude (Albrecht Knaus Verlag, 240 Seiten) ist von heute an zum Preis von 16,99 Euro im Buchhandel zu erwerben.
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