Mit Fürsorglichkeit und Butterbroten: Wie Mutti Merkel Schwarz-Gelb schmiedet
Bloß keinen Alkohol trinken - dafür aber Kekse, Chips und gelegentlich mal eine Rauchpause einlegen: Die Verhandlungsexpertin Ingrid Stahmer (67), von 1989 bis 1999 SPD-Senatorin in Berlin und heute Trainerin für Gruppendynamik, erklärt, worauf es in den Berliner Nächten jetzt ankommt - und was Bundeskanzlerin Angela Merkel tun muss, wenn mal einer ihrer Verhandlungspartner brüllt.
AZ: Frau Stahmer, 27 Politiker von CDU, CSU und FDP verhandeln derzeit über die neue schwarz-gelbe Koalition. Die Gruppe scheint uns ein bisserl groß zu sein...
INGRID STAHMER: Das ist zu viel. Da gibt’s natürlich viele Fensterreden. Jeder muss erst mal seine Identität in der Gruppe zeigen, Duftmarken setzen. Vertrauliche Gruppen, in denen sich wirklich Gesprächsbeziehungen entwickeln sollen, können eigentlich nicht mehr als 12 Personen umfassen. Andererseits brauchen Politiker immer viel Vergewisserung um sich rum, deshalb könnten Beratende in der zweiten Reihe sitzen.
Die Unterhändler sitzen in einem großen Rechteck. Auf einer Seite die FDP, auf den drei anderen CDU und CSU...
Man sollte auf jeden Fall nicht durcheinandersitzen. Es ist schon wichtig, dass die einzelnen Parteien für sich ein Wir-Gefühl, eine eigene Identität entwickeln, Vertrauen untereinander haben. Damit die jeweilige Parteiführung nicht immer auf den eigenen Hühnerhaufen aufpassen muss. Um gemeinsam oder alleine Haupt- und Nebenforderungen verfolgen zu können, müssen sie darüber hinaus gut vorbereitet sein.
Wie wichtig ist es für den Erfolg, eine große Gruppe immer wieder aufzulösen, vertrauliche Vier-oder Sechs-Augen-Gespräche zu führen?
Das geht wirklich nur, wenn Vertrauen entstanden ist. Jede Gruppe muss das entwickeln, ehe sie sich arbeitsfähig aufteilen kann. Jedes Mitglied sucht erst mal nach seinem Platz in der Gruppe - wie bei Ihnen in der Redaktionskonferenz. Ob er oder sie drinnen oder draußen ist, mehr am Rand oder ganz vorne, dazu dienen auch die Fensterreden, die weniger werden, wenn die Untergruppen schon Vertrauen und Klarheit über Ziele und Rollen entwickelt haben.
Gibt’s in so einer Koalitionsverhandlungs-Gruppe auch den Witzbold und den Wortführer, also die schon aus Schulklassen vertrauten Rollenbilder?
Es gibt Leute, die eher aufgabenorientiert agieren, und andere, die eher für Entspannung sorgen. Es gibt die Vielredner und die Nixredner. Für die Moderation einer Gruppe ist es ganz wichtig, auch die Wenigredner mit einzubeziehen, zum Beispiel durch weiterführende Fragen. Ein wichtiger Grundsatz in der Führungslehre lautet: Wer fragt, führt.
Die Führungsfigur bei Schwarz-Gelb scheint ja unumstritten zu sein...
Frau Merkel ist sicher die klare Nummer eins. Aber Westerwelle wird schon daran arbeiten, dass er eindeutig als der zweite Große erkannt wird. Er weiß ganz genau: Er wird gebraucht. Ganz wichtig ist hier Achtsamkeit: Die Rolle des anderen in der Gruppe, seine Position anzuerkennen. Wenn ich Bundeskanzlerin Angela Merkel wäre, würde ich darauf achten, Westerwelle nicht ins Kraut schießen zu lassen, aber durchaus Augenhöhe herzustellen, damit er sich nicht erniedrigt fühlt. Es gibt in solchen Gruppen immer eine Sach- und eine Beziehungsebene, die wahrgenommen werden müssen. Sonst leidet die Arbeitsfähigkeit.
Bundeskanzlerin Angela Merkel wird in Berlin scherzhaft Mutti genannt. Kann sie diese Rolle auch bei den Koalitionsverhandlungen einnehmen?
Ja. Wenn sie neben ihrer bekannten Festigkeit auch Fürsorglichkeit zeigt, zum Beispiel auch Schweigende mal zum Reden bringt und ein kooperatives Klima herstellt. Eine kluge Führungsperson kennt ihre Pappenheimer. Wichtig ist das aktive Zuhören, etwa zu sagen: "Ah, Herr Kollege, ich verstehe Sie also richtig, diese ganze Frage muss hier raus?" Übertreiben, was einer gesagt hat. Um ihn dann zu veranlassen zu sagen: "Nein, so hab ich das auch wieder nicht gemeint" – und sich näher zu erklären. Generell muss man Wertschätzung zeigen für Verhandlungspartner, sie wissen lassen, dass man sie verstanden hat und nicht überfallartig mit der eigenen Meinung aus dem Busch kommen.
CSU-Chef Horst Seehofer ist ein großer Ironiker. Kommt das in solchen Verhandlungen an?
Das muss er selber wissen, wie weit das verstanden wird. Ich habe den Eindruck, dass die Politikmenschen dafür eine ganz gute Wahrnehmung haben.
Teilen sich Partei-Delegationen beim Feilschen gerne in good guys und bad guys auf?
Natürlich. Der eine stellt Maximalforderungen in den Raum. Der andere jammert: „Wie soll ich das meiner Basis und meinen Wählern erklären?" Der dritte gibt sich konziliant. Aber diese Rollenverteilung muss überzeugend und authentisch rüberkommen, darf nicht gespielt wirken. Das merkt das Gegenüber. Man kann aber einen hartleibigen Gesprächspartner durchaus mal strategisch rausschicken zum Kaffeeholen, um dann ungestört weiterführende Vorschläge zu machen, über die aber dann erst die wieder hereinkommende Hauptfigur entscheiden kann. Solche Rollenspiele können sehr erfolgreich sein, solange sie mit dem Kaffeeholer abgestimmt sind.
Verhandeln Frauen in der Politik anders als Männer?
In der Regel hören Frauen besser zu, verstehen Neben- und Untertöne besser. Reden meistens später, fügen sich besser in die Gruppe ein und nehmen besser Bezug auf das, was andere gesagt haben. Männer tönen dagegen erstmal platzhirschig: „Hallo, hier bin ich. Was wollt ihr?" Bei solchen Gruppenangelegenheiten spielt die ursprüngliche Existenzangst in einer fremden neuen Gruppe eine Rolle: Wer bin ich hier? Was kann ich hier tun? Bin ich hier geschützt oder angegriffen? Andererseits: Es gibt männliche und weibliche Machos, die mal einen Schlag zwischen die Hörner brauchen, um die Stärke des Partners wahrzunehmen und sich nicht nur in der eigenen Stärke zu sonnen.
Was tun, wenn es zum Eklat kommt, zum Gebrüll?
Dann kommt es sehr auf die Moderation an: Eine solche Situation kann man humorvoll zurückführen zum Thema, indem man etwa eine Regel einführt: „Jetzt dürfen nur die und die brüllen, und zwar nacheinander." Oder: "Ja, Herr Sowieso, das ist verständlich, dass sie da ein ganz großes Interesse haben. Aber jetzt kommen Sie mal wieder runter vom Baum." Wichtig ist nur, niemanden bloßzustellen, also den Humor individuell und sensibel zu dosieren. Und mit solchen deeskalierenden Bemerkungen nicht eine ganze Verhandlungsgruppe in den Widerstand zu treiben.
Helfen Witze?
Ja, situationsbezogene jedenfalls. Wenn alle gemeinsam lachen, kann das ein Ventil sein, um die ganze Situation zu entlasten. Man darf nur nicht eine Seite auslachen, das wäre unpraktisch.
Im Hintergrund schwingen bei solchen Verhandlungen doch immer Personalfragen mit. Potenzielle Minister schwingen ihre Bewerbungsreden...
Natürlich. Das ist eines der größten Übel in der Politik überhaupt: Wenn einer gut reden kann, meinen viele, der kann auch eine große Verwaltung gut führen. Also wird er Minister. Was dann passiert, können wir öfter sehen.
Umso wichtiger ist, wer bei den Verhandlungen das große Wort führt.
Eine klima- und sachbezogene Führung ist sehr wichtig. Er oder sie bestimmt das Klima und die Worterteilung, kann jederzeit jeden einbeziehen. Sehen, da ist einer von der Gegenpartei, von dem ich weiß, dass er was Kluges sagt. Auch mal Leute reden lassen, die da sitzen und herumhibbeln, aber sich nicht trauen oder von anderen unterdrückt werden.
Vergiftet es das Klima, wenn Verhandler dauernd Medien irgendwelche Zwischenergebnisse durchstechen?
Leider sehr. Das zerstört das Verhandlungsvertrauen, es kommt zu Eifersucht. Es ist einer der größten Fehler, dass Politiker in solchen sensiblen Phasen das ein oder andere Mikrofon nicht an sich vorübergehen lassen können.
Also müsste man Politiker wie Kardinäle bei der Papstwahl einsperren und Medienverbot erteilen?
Ja. Medienverbot ist genauso wichtig wie ein absolutes Alkoholverbot während der Verhandlungen. Alkohol lockert zwar womöglich auf, macht aber auch unaufmerksam.
Aber gemeinsame Raucherpausen können doch förderlich sein?
Das ist überhaupt nicht schlecht. Weil man sich dann schon durch das heutige absolute Ausgestoßensein näherkommt.
Haben Sie Tipps für den abschließenden Drei-Tage-wach-Marathon? Wie bleibt man da fit?
Wichtig ist eine kluge Gesprächsleitung, die Eskalation oder steinzeitliche Gegenschläge verhindert. Zudem sollte man auf eine bedarfsorientierte Ausstattung achten: Es müssen genügend Getränke und Butterbrote da sein, Obst und Kekse. Am liebsten Schokokekse, die sind immer zuerst alle. Auch Salziges wie Chips, für Leute, die nichts Süßes mögen. Und spätestens nach vier Stunden sollte es eine Pause geben.
Interview: Markus Jox