Mit Chuzpe gegen die Nazis

Erst spät erfuhr Tamas Szabó aus Gröbenzell die volle Wahrheit über seinen Vater. Jetzt nahm er dessen Ehrung durch Yad Vashem entgegen
von  Susanne Stephan
Im Ledermantel ging er als Nazi durch: Károly Szabó.
Im Ledermantel ging er als Nazi durch: Károly Szabó.

 

MÜNCHEN Budapest, im Jahr 1944: Der schwedische Diplomat Raoul Wallenberg hält einen sechs Monate alten Säugling. Das Baby schreit, Wallenberg hat keine Ahnung, wie er den Buben beruhigen soll. „Meine Mutter erzählte, dass er Angst vor mir hatte“, amüsiert sich Tamas Szabó heute. „Wallenberg war alleinstehend und nicht daran gewöhnt, mit Kindern umzugehen.“

München, im Dezember 2013: In der Janusz-Korczak-Akademie unweit des Stachus nimmt Tamas Szabó stellvertretend für seinen Vater eine Ehrenurkunde der Gedenkstätte Yad Vashem entgegen. Károly Szabó wird als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt, für seinen Einsatz zur Rettung von Juden während des Holocaust. Ein glücklicher Tag für Tamas Szabó, der erst spät die ganze Wahrheit über seinen Vater erfuhr.

1972 ist Tamas Szabó über Umwege von Ungarn nach München gekommen und arbeitet hier als Informatiker. In seiner Freizeit recherchiert er ab und zu über seinen verstorbenen Vater Károly, dessen Freund Pal Szalai und den schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg. Besonders ergiebig sind seine Nachforschungen nicht. Das ändert sich, als 1990 die Mauer zwischen Ost und West fällt. Viele Archive, die zuvor geheim waren, werden zugänglich. Die ungarische Journalistin Maria Ember, eine Holocaust-Überlebende, recherchiert und tauscht sich mit Tamas Szabó aus. Nach und nach versteht dieser, was sich hinter dem Schweigen verbarg, das in seiner Familie herrschte, als er ein Kind war. Er versteht, warum sein Vater nach dem Krieg leise und ängstlich wurde, mit 48 Jahren starb.

Noch in den 40er Jahren war der Büromaschinenmechaniker Károly Szabó ein anderer Mensch: Draufgängerisch, unternehmungslustig, gesellig. Er ging zur Armee, kehrte verwundet nach Budapest zurück, arbeitete für die schwedische Botschaft. Dort lernte er Otto Fleischmann kennen, einen Wiener Psychoanalytiker aus Sigmund Freuds Schule, der vor den Nazis nach Ungarn geflohen war. „Mein Vater war durch die Kriegserlebnisse geknickt. Fleischmann hat ihn aufgerichtet“, berichtet Tamas Szabó.

Fleischmann machte Károly Szabó außerdem mit Raoul Wallenberg bekannt, der zu dieser Zeit alle Hebel in Bewegung setzte, um die Juden Budapests vor der Ermordung durch nationalsozialistische Schlägertrupps und der Deportation in Konzentrationslager zu schützen. Für den Diplomaten und seine Helfer war Szabó unter anderem wegen seiner Freundschaft zu Pal Szalai wertvoll, einem hochrangigen Mitglied der Nazi-treuen ungarischen Pfeilkreuzler.

Der hochgewachsene, blonde, blauäugige Szabó und sein vordergründig rechtsnationaler Freund Szalai – sie waren ein ideales Gespann für halsbrecherische Aktionen. Auf das Geheiß des Psychoanalytikers hin trug Szabó einen langen schwarzen Ledermantel, der ihn optisch als Gestapo-Offizier auswies. Dazu versorgte Fleischmann Szabó mit Ausweisen, die Wallenberg organisiert hatte.

„Mein Vater war anfangs skeptisch“, sagt Tamas Szabó. „Dann wurde Fleischmann eines Tages in seiner Gegenwart von Pfeilkreuzlern bedroht. Mein Vater griff in die Tasche, präsentierte einen Ausweis mit der Unterschrift des deutschen Stadtkommandanten und sagte, er wolle Fleischmann selbst einer ’Sonderbehandlung’ unterziehen.“ Sofort gaben die Pfeilkreuzler klein bei.

Viele Rettungsaktionen folgten. „Die Gestapo-Verkleidung mit Ledermantel, blonden Haaren, blaue Augen, die Ausweise und der Befehlston haben ihre Wirkung gehabt. “, berichtet Szabó. Sein Vater habe, „seelisch gestärkt“ durch Fleischmann, die Pfeilkreuzler regelrecht „beschimpft“, wenn es nötig war.

Berüchtigt waren Ende 1944 und Anfang 1945 die Überfälle der Pfeilkreuzler, bei denen Juden aus Budapest zur Donau getrieben wurden, um sie dort zu exekutieren. Eine spektakuläre Aktion gelang Szabó und Szalai am 8. Januar 1945: Sie retteten 154 Juden, die die Schlägertrupps aus einem Haus der schwedischen Botschaft gezerrt hatten, in letzter Minute vor dem Tod.

Wenige Monate darauf folgten die Kapitulation Deutschlands, der Friede – aber nicht für die Familie Szabó. Tamas war fünf Jahre alt, als die Kommunisten den kleinen Betrieb seines Vaters verstaatlichten. „Ich weiß noch genau, wie sie die Bücher aus den Regalen zerrten und auf den Boden warfen.“

Dann geriet Szabó in den Sog der Ereignisse um Raoul Wallenberg. Bis heute ist nicht geklärt, warum der Schwede in sowjetische Haft geriet und wie er dort zu Tode kam. Lange Zeit dementierte Russland, ihn in Gefangenschaft genommen zu haben. Möglicherweise spielte ein Kredit Schwedens eine Rolle, vielleicht auch Dokumente, die Wallenberg besaß.

Der öffentliche Druck auf die Sowjetunion wegen der Causa Wallenberg wuchs. 1953 inszenierten die Machthaber deswegen einen Schauprozess, bei dem der Tod des Diplomaten als Ergebnis einer zionistischen Verschwörung dargestellt werden sollte. „Am 7. April 1953 verschwand mein Vater“, erinnert sich Tamas Szabó. Erst ein halbes Jahr später tauchte er wieder auf – mit Folterspuren am Kopf und zerfetzter Kleidung.

Darüber, was genau passiert war, wurde in der Familie nicht gesprochen. Aber es war klar, dass etwas Schlimmes vorgefallen war. „Mein Vater wurde leise. Er hatte Angst“, erinnert sich Szabó. Unter Folter, erfuhr er erst 2011, hatte einer der geretteten Juden – der frühere Leiter der jüdischen Budapester Gemeinde, Lajos Stöckler – angegeben, Szalai und Szabó hätten Wallenberg ermordet.

Eine zynische Intrige, für die es auch posthum keine Rehabilitation gab: „Ich verlangte eine Wiedergutmachung, aber sie sagten mir, dass nichts gezahlt würde, weil es kein offizielles Urteil gegeben habe.“

Verschiedentlich besuchten Károly Szabó und sein Sohn nach dem Krieg in Paris und London Überlebende des Budapester Dramas. Tamas ist zu diesem Zeitpunkt zu klein, um Fragen zu stellen. Aber er freut sich über die Pakete aus London. In einem ist die abgelegte israelische Militärkluft einer jungen Frau aus einer Londoner Familie. „In der Schule waren sie neidisch auf mich. Sie hätten mir die Kleider fast vom Leib gerissen.“

Erst viele Jahre später, als Google und Wikipedia die Welt erfassen, knüpft Tamas Szabó – er lebt mittlerweile in Gröbenzell – zu weiteren Überlebenden Kontakt. Und er schreibt an die israelische Gedenkstätte Yad Vashem, erinnert an seinen Vater. Der hätte sich über die Ehrung als „Gerechter unter den Völkern“ gefreut, weiß Szabó. „Ich bin froh, dass ich die Sache so weit gebracht habe.“ sun

Vor 50 Jahren begann der Auschwitzprozess

 

"Ein Meer von Blut, in Sand versickert"

FRANKFURT/MAINWenn ich nur den Namen Kaduk höre, bekomme ich heute noch Angst“ erinnerte sich einer der Zeugen an den SS-Oberscharführer . „Er war fast immer betrunken, auf der Suche nach Schnaps und schlug, erschlug, erdrosselte und erschoss Häftlinge.“

Heute vor 50 Jahren begann in Frankfurt der Auschwitzprozess – ein Mammutverfahren, in dem die „Endlösung“ aufgearbeitet werden sollte. 22 Männer in Anzug und Krawatte saßen auf der Anklagebank. Die Männer waren im Krieg mordende SS-Offiziere ebenso wie brutale KZ-Aufseher oder menschenverachtende KZ-Ärzte – und sie waren zum Zeitpunkt des Prozessauftaktes, am 20. Dezember 1963, nette Nachbarn ebenso wie angesehene Unternehmer oder Altenpfleger.

Den Deutschen, die sich in den 1960er Jahren in weiten Teilen der Vergangenheitsbewältigung verweigerten, sollte das Verfahren einen Spiegel vorhalten. Für viele machte es vor 50 Jahren erstmals greifbar, was die „Endlösung der Judenfrage“ tatsächlich bedeutete.

Zunächst im Römer, später im Bürgerhaus des Gallusviertels wurde auf großen Karten das Stammlager Auschwitz dargestellt ebenso wie das Lager in Auschwitz-Birkenau, die Region um Auschwitz und das Krematorium, Block für Block, eine Dimension der Unmenschlichkeit. Mehr als 16 000 Seiten Papier – Akten, Totenbücher, Bestellscheine für Giftspritzen und das Giftgas Zyklon B – wurden durchforstet, rund 1300 Zeugen befragt.

Fast 360 von ihnen, die meisten ehemalige KZ-Häftlinge, sagten schließlich in dem rund 20 Monate dauernden Verfahren aus.

Die Urteile am 19. August 1965 fielen nach Ansicht vieler Beobachter zu milde aus: Den Massenmord sollten nur sechs Angeklagte mit lebenslangem Zuchthaus büßen, elf weitere erhielten begrenzte Freiheitsstrafen, und drei kamen sogar mit Freispruch davon. „Eine Bagatelle“, als ob ein „Meer von Blut in Sand versickert“, kommentierte die französische Zeitung „Le Monde“. sun

 

 

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