Mit 14 schon die 40-Stunden-Woche

„Das G8 ist total bescheuert“, findet Christina. Für Hobbys hat die 14-Jährige bei 40 Wochenstunden fürs Turbo-Gymnasium kaum noch Zeit. Das achtstufige Gymnasium und die Folgen.
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Fast wie der Terminkalender eines Managers: Christinas Stundenplan ist vollgepackt.
az Fast wie der Terminkalender eines Managers: Christinas Stundenplan ist vollgepackt.

MÜNCHEN - „Das G8 ist total bescheuert“, findet Christina. Für Hobbys hat die 14-Jährige bei 40 Wochenstunden fürs Turbo-Gymnasium kaum noch Zeit. Das achtstufige Gymnasium und die Folgen.

Es gab da diese Situation, da hat es Heide Strack gereicht: „Schätzchen’, hab ich gesagt, ,willst du nicht noch ein bisschen raus, eine Freundin besuchen oder so?’“ Die Antwort, die ihre Tochter gab, wie sie da über ihrem Schreibtisch saß, müde und fertig, die hat die Mutter „richtig geschockt“: „Nein“, hat Christina gesagt, „Ich will nur noch meine Ruhe haben.“ Das muss man sich man mal vorstellen, sagt Heide Strack: „Ein Kind von elf Jahren, dass seine Ruhe haben will.“ An dem Tag, sagt die Mutter, habe sie beschlossen, etwas gegen das G8 zu tun.

Das G8, kurz für das achtstufige Gymnasium, ist zum Schreckenskürzel für Zehntausende Eltern und Schüler in Bayern geworden. Eine an sich gute Idee, deren Ausführung und Praxis exemplarisch klar macht, warum „gut gemeint“ das Gegenteil von „gut gemacht“ sein kann. Stöhnende Eltern und gestresste Kinder, kopfschüttelnde Lehrer und stopselnde Politiker, das ist Lage vier Jahre nach der Einführung. Jetzt soll sich was ändern, Kultusminister Siegfried Schneider soll noch diese Woche eine Liste mit Kürzungsvorschlägen für den Lernstoff erhalten. Zu wenig, zu spät, meinen Eltern und Kinder.

Den Anfang machte Edmund Stoiber

Die AZ hörte sich in Münchner Familien um. Angefangen hat alles mit Edmund Stoiber. Zwar hatten der damalige bayerische Ministerpräsident und seine CSU jahrelang gegen die Verkürzung des neunjährigen Gymnasium gewettert. Sogar in den Wahlkampf war er gezogen mit dem Versprechen, so was Neumodisches wie achtjähriges Gymnasium, so was wie in der ehemaligen DDR werde es in Bayern nicht geben. Aber dann kam die Globalisierung, und die Erkenntnis reifte im Kopf desMinisterpräsidenten, dass deutsche Schüler im internationalen Vergleich zu lange zur Schule gehen, zu spät ihre Ausbildung beenden und zu spät auf den Arbeitsmarkt kommen. Im Hauruckverfahren zwang Stoiber seine damalige Schulministerin Monika Hohlmeier zum 180-Grad-Schwenk und zur Einführung des G8.

Zur Überraschung aller wurde das Teufelswerk zur Weisheit letzter Schluss. Und natürlich: Am überragenden Qualitätsstandard des Bayern-Abiturs werde sich nichts ändern! Was die Kultus-Bürokratie frei übersetzte mit: Gleiches Pensum, aber in einem Schuljahr weniger. „Das sah dann so aus“, erzählt Heide Strack, „dass Christina in der 5. Klasse fünf Wochenstunden mehr hatte als ihre Schwester in der Neunten.“

Mutter Strack ließ sich in den Elternbeirat wählen, verfasste Briefe und rückte den Politikern auf die Pelle – bislang ohne viel Erfolg. Mittlerweile ist Christina 14, selbst in der neunten Klasse und eigentlich ganz locker: „Das G8 ist total bescheuert“, sagt sie, „ich würde gern spanisch lernen, Tennis spielen oder reiten, aber das ist nicht drin.“ Schließlich gibt’s die Klavierstunde und Handball als Hobby: „Das macht total Spaß, und das will ich auch nicht aufgeben“, sagt sie selbstbewusst.

Ja, bei ihr klappt das ganz gut, „aber bei fünf in meiner Klasse steht’s total auf der Kippe“, auch bei einigen Freundinnen. Zeit, die zu sehen hat sie ohnehin wenig: „Meine Schwester kann jeden Nachmittag was machen, bei mir geht das nicht.“ 34 Wochenstunden hat sie in der Schule, dazu fünf bis sechs Stunden lernen daheim, Vorbereitungen auf Prüfungen oder Referate nicht mitgerechnet: Christina hat die 40-Stundenwoche, schon mit 14. „Am schlimmsten ist der Donnerstag“ erzählt sie. Physik, Mathe, Englisch, Religion am Morgen, am Nachmittag Wirtschaft, Bio und Deutsch: „Da komm’ ich um vier nach Hause, hab eine Viertel Stunde und muss dann zum Handball-Training.“

Und die Hausaufgaben?

Um sieben ist sie wieder daheim, um acht hat sie geduscht und gegessen: „Und dann geht gleich ,Germany’s next Top-Model’ los!“ Die Casting- Show mitHeidi Klum muss offenbar sein. Und die Hausaufgaben? „Mach ich in den Werbepausen.“ „Christina ist aufgeweckt und organisiert sich alles selbst“, sagt die Mutter stolz, und dennoch: „Das ist alles viel zu viel“, meint die Mutter: „Sie hat überhaupt keine Zeit mehr, Mensch zu sein, oder einfach nur ein Teenie.“ Keine Zeit! Das hört man immer wieder von Betroffenen, das sagt auch Barbara Tremel öfter, wenn es um ihre G8-Kinder geht. Julian und Alina sind 13, Zwillinge und gehen in die achte Klasse. „Die Hälfte der Schüler hat jetzt blaue Briefe bekommen“, sagt die Mutter: „Versetzung gefährdet. Das kann doch nicht nur an den Schülern liegen“.

Und: „Minimum ein Drittel“ braucht Nachhilfe.“ Das geht ins Geld, manche Eltern berappen bis zu 250 Euro im Monat: „Und da lernt man dann Nachhilfe- Lehrer kennen, die sagen: Ein Wochenende bräuchten sie, um den Lehrplan zu entmüllen.“ Dem Kultusministerium will das nicht so schnell gelingen. Die Fachbereichsleiter würden alle gerne kürzen – bei den Fächern der Kollegen. Im eigenen Bereich ist alles super-wichtig. Und dennoch:Wahrscheinlichkeitsrechnung in der siebten Klasse? „Da fragt man sich schon: Muss dass sein,“ sagt auch Heide Strack, die selbst Mathe-Nachhilfe gibt. „Beide sind immer gerne in die Schule gegangen, haben immer gerne gelernt“, sagt Barbara Tremel über ihre Zwillinge: „Die Begeisterung hat sich gewaltig gelegt.“ Neulich hat Julian gesagt: „Mama, es kann doch nicht das ganze Leben aus Schule bestehen.“ Und Alina, die so gerne Theater spielen würde, könnte gar nicht in die Theater-AG, selbst wenn die nicht ständig ausfallen würde: „Keine Zeit.“

Manchmal sitzen die 13-jährigen noch bis um neun am Abend über den Hausaufgaben. Selbst für den Termin mit der AZ-Fotografin wird’s knapp: „Dauert das lang“, fragt die Mutter: „Wir schreiben nämlich morgen Latein, und übermorgen ist Mathe dran.“ So einmal die Woche, da reserviert sich Paul Dessecker schon Zeit für seine Freunde – „so von sechs bis acht“, sagt seine Mutter Susanne. Ansonsten leidet auch der 14-jährige unter dem „Keine-Zeit- Syndrom“ der G8-ler. Und er sieht, dass die älteren eine Klasse über ihm mehr Zeit haben. Das Klagelied über das enorme Pensum erklingt auch hier. Dabei geht Paul, der so gerne Gitarre spielt, auf eine Ganztagesschule – aber Vokabeln lernen bleibt trotzdem noch als Abendprogramm.

„Alles was Neigung ist, alles über das Pflichtprogramm hinaus ist nicht machbar, sagt Susanne Dessecker: „Es fehlt ihm einfach die Energie“. Susanne Dessecker macht sich wie die anderen Mütter Sorgen um die Zukunft: „Die meisten Lehrer haben viel Verständnis.“ Viele sind auch nicht einverstanden mit der Last, die den Kindern aufgebürdet wird. Aber wenn man fragt: „Wie wird das eigentlich mit dem Abitur? Da zucken die nur mit den Schultern – Keine Ahnung.“ Und Paul badet’s aus. „Manchmal“, erzählt seine Mutter, „da ist er so fertig, da wirft er sich nach der Schule einfach eine halbe Stunde auf den Wohnzimmer-Teppich – die Katzen müssen ihn aufbauen.“

MATTHIAS MAUS

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