Migrationsforscher Knaus erwartet zehn Millionen Ukraine-Flüchtlinge

AZ-Interview mit dem Migrationsforscher Gerald Knaus: Der 52-jährige Österreicher ist Mitgründer und Vorsitzender des Think Tanks European Stability Initiative (ESI). Der Soziologe berät Regierungen. Er gilt als Vordenker des EU-Türkei-Abkommens über die Rücknahme von Flüchtlingen aus dem Jahr 2016.
"Ziel dieses Krieges ist auch die Zerstörung der ukrainischen Identität"
AZ: Herr Knaus, die grauenhaften Bilder von ermordeten Zivilisten aus Butscha erschüttern Europa. Welche Reaktion der Gemeinschaft auf diese russischen Kriegsverbrechen wäre angemessen?
GERALD KNAUS: Angesichts der Ereignisse in Mariupol - wo über 100.000 Menschen in einem Inferno eingekesselt sind - wissen wir eigentlich seit Wochen, dass dieser Krieg von Wladimir Putin so geführt wird, wie schon in Tschetschenien oder Syrien: Alle diese Kriege haben genau dasselbe beinhaltet wie jetzt in Butscha. Neu ist lediglich, dass wir auf diesen grauenvollen Bildern nun sehen, was vor wenigen Tagen unweit einer europäischen Hauptstadt geschehen ist. Deshalb müssen wir jetzt klar erkennen, dass das Ziel dieses Krieges nicht nur die Zerstörung der ukrainischen Demokratie ist, sondern auch die Zerstörung der ukrainischen Identität. Es besteht die Gefahr eines Völkermords - wenn die Grenze nicht schon überschritten ist.
Was also fordern Sie?
Die Europäische Union muss alles tun, um die Ukrainer dabei zu unterstützen, sich gegen diese Aggression zu wehren.
Was meinen Sie mit "alles"?
Die Frage ist, ob hinsichtlich der militärischen Unterstützung noch mehr geschehen kann. Außerdem braucht es alle Sanktionen, die möglich sind, um den Druck auf Wladimir Putin zu erhöhen.
Also auch ein Energie-Embargo?
Einerseits habe ich Vertrauen in die Argumente von Wirtschaftsminister Robert Habeck. Andererseits glaube ich, dass die deutsche wie auch die europäische Bevölkerung angesichts der Brutalität des Krieges und auch der Gefahr für die eigene Sicherheit bereit ist, höhere Kosten zu tragen.
Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat bereits Ermittlungen gegen Russland wegen möglicher Kriegsverbrechen eingeleitet. Im Kreml scheint das niemanden zu beeindrucken. Sie begrüßen dieses Vorgehen dennoch. Warum?
Denken Sie an das Sondergericht für das ehemalige Jugoslawien. Als es 1993 eingerichtet wurde, hat man es ebenfalls nicht sonderlich ernst genommen. Der Völkermord in Srebrenica fand 1995 völlig unbeeindruckt davon statt. Aber nach diesem Schock war die Internationale Gemeinschaft bereit, den Gerichtshof mit den notwendigen Ressourcen auszustatten, dieses gewaltige Verbrechen zu untersuchen und glaubwürdige Anklagen hervorzubringen. Genau dasselbe müsste nun wieder geschehen.
Was erhoffen Sie sich davon?
Dass diese Untersuchungen einen Einfluss auf Putin selbst haben könnten, ist eine Illusion. Aber sie könnten sich auf Menschen in seinem Umfeld und die Militärs auswirken. Anklagen könnten dazu führen, dass sie den Rest ihres Lebens in kein Land mehr reisen können, das den Internationalen Strafgerichtshof anerkennt, weil sie sonst festgenommen werden. Das ist ein notwendiges Signal - auch an die Opfer.
Flüchtlinge aus der Ukraine: "Wir brauchen ein EU-weites System"
Terror gegen Zivilisten, Bomben auf Geburtskliniken, Zerstörung der Infrastruktur: Ist es Teil von Putins Kriegsführung, durch die gezielte Vertreibung von Menschen die Europäische Gemeinschaft zu erschüttern - ähnlich wie 2015?
Ganz sicher. Und wir sehen ja auch: Obwohl die russische Führung vorgibt, sich nur noch auf das Kriegsziel der Erweiterung des Territoriums im Osten der Ukraine zu konzentrieren, wird Odessa bombardiert. Das kann sehr leicht dazu führen, dass auch aus dem Süden sehr viele Menschen fliehen müssen - etwa nach Moldau, einen Staat, der aufgrund wirtschaftlichen Drucks, steigender Energiepreise und der gewaltigen Zahl an Flüchtlingen, die er bereits aufgenommen hat, extrem gefährdet ist. So geht die Destabilisierung der Ukraine und ihrer Nachbarländer immer weiter. Putin hat schon im Dezember mit seinen Forderungen an die Nato klargemacht, dass er die gesamte europäische Sicherheitsordnung auf den Kopf stellen will. Deshalb ist es extrem wichtig, dass die EU nun zwei Dinge gleichzeitig tut.
Nämlich welche?
Erstens muss sie das Versprechen erfüllen, dass alle Ukrainerinnen und Ukrainer human aufgenommen und unterstützt werden. Und zweitens muss sie das auf eine Art bewerkstelligen, die nicht zu einem Gefühl der Angst vor Kontrollverlust und Überforderung in den direkten Nachbarländern der Ukraine führt.
"Um die Nachbarländer zu entlasten, brauchen wir Drehkreuze"
Wie könnte das gelingen?
Die Luftbrücke der Bundesregierung, mit deren Hilfe 2.500 Geflüchtete aus Moldau nach Deutschland gebracht werden sollen, ist nur ein Anfang. Darüber hinaus brauchen wir ein EU-weites System: Bevor es in den Nachbarländern schwierig wird, den Flüchtlingen ein Dach über dem Kopf oder einen Platz in der Schule zu bieten, müssen wir es schaffen, sie organisiert in Länder zu bringen, die diese Kapazitäten haben. Beispiel Großbritannien: Dort haben sich über 200.000 Bürger gemeldet, die Ukrainer aufnehmen würden. Bis jetzt haben aber erst rund 5.000 ein Visum erhalten.

Frankreich oder Spanien bieten bislang ebenfalls nur einer vergleichsweise geringen Zahl Schutz. Wir brauchen Drehkreuze, von denen aus wir die Menschen dorthin, aber auch nach Finnland oder Schweden bringen können. Durch die enorme Hilfsbereitschaft privater Haushalte in Polen, Moldau, der Slowakei, Rumänien oder Tschechien ist es in den ersten Kriegswochen zwar gelungen, viele Menschen unterzubringen. Aber es ist eine Illusion, die auch bei manchen Mitgliedern der Brüsseler Kommission fortbesteht, zu glauben, dass diese spontane Verteilung genügen wird, um Chaos zu vermeiden.
Mittlerweile sind mehr als vier Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Mit wie vielen rechnen Sie noch?
Das hängt davon ab, wie der Krieg verläuft und wie sich die humanitäre sowie wirtschaftliche Lage im Land entwickelt. Fakt ist: Die Häfen sind abgesperrt, die Versorgung von Großstädten wie Charkiw lebensgefährlich. Schon jetzt haben wir Millionen Vertriebene. Und die Kriegsziele, die sowohl Putin als auch die kremlnahen Medien weiterhin formulieren, lassen keine Hoffnung auf Frieden in naher Zukunft.
"Nach nur fünf Wochen ist ein Viertel der Bevölkerung auf der Flucht"
Welche Kriegsziele meinen Sie genau?
In der offiziellen Nachrichtenagentur Ria Novosti ist gerade ein Artikel erschienen, der die gleiche Sprache verwendet wie Putin in seinen Kriegserklärungen im Februar. Der Verfasser schreibt, das Ziel in der Ukraine müsse sein, die ukrainische Identität zu zerstören, Massengefängnisse einzurichten und "Nazis" hinzurichten - wobei Nationalsozialismus mit der ukrainischen Identität gleichgesetzt wird. Was wir rund um Kiew und Mariupol gesehen haben, zeigt, dass das nicht nur Rhetorik ist.
Sie haben zu Beginn des Krieges davon gesprochen, dass bis zu zehn Millionen Menschen in die EU flüchten könnten. Halten Sie diese Zahl weiterhin für realistisch?
Schon jetzt haben wir sechs Millionen Binnenvertriebene - und mehr als vier Millionen im Ausland. Das bedeutet: Nach nur fünf Wochen ist ein Viertel der Bevölkerung auf der Flucht. Wenn der Krieg ein halbes Jahr oder länger dauert, ist die Zahl von zehn Millionen Menschen, die in die EU fliehen, zwar eine Katastrophe - aber realistisch.
"Zivilgesellschaft muss vom Staat unterstützt werden"
Aktuell ist die Hilfsbereitschaft der Zivilgesellschaft enorm. Doch wie lange wird das Engagement anhalten?
Das Wichtigste ist, dass wir das genannte Entlastungssystem jetzt schaffen. Wir müssen um jeden Preis vermeiden, dass Menschen in Massenunterkünften, Zeltstädten oder gar auf der Straße leben, weil die Aufnahmeländer überfordert sind. Sonst geschieht, was 2015 in Schweden passiert ist, als die Syrer geflohen sind: Im September war die Bevölkerung und die gesamte politische Elite dafür, Menschen aufzunehmen - und Ende November verkündete die stellvertretende Ministerpräsidentin mit Tränen in den Augen, dass Schweden überfordert sei und niemanden mehr aufnehmen könne. Innerhalb von acht Wochen hatte sich die Stimmung völlig verändert. Deshalb brauchen wir Hubs und Drehkreuze. Aber bei dieser zentralen Herausforderung sehe ich noch viel zu wenige Aktivitäten.
Hat Europa demnach nichts aus 2015 gelernt?
Das zu behaupten, wäre unfair. In der ersten Woche dieses Krieges sind so viele Menschen nach Europa gekommen wie damals in einem Jahr von der Türkei nach Griechenland. Man hat sich auf die aktuelle Herausforderung nicht vorbereitet, weil es so etwas seit den 1940er Jahren nicht gab. Aber die Lehre, die man tatsächlich ziehen muss, ist: Gewaltige Empathie ist die Voraussetzung dafür, dass man mit solchen Krisen zurechtkommt - das bedarf aber immer auch Organisation, Logistik und Unterstützung der Zivilgesellschaft durch den Staat.
"Nur der Widerstand der Ukrainer kann Putin noch stoppen"
In Großbritannien unterstützt der Staat Privatpersonen, die Kriegsflüchtlinge aufnehmen, mit 350 Pfund im Monat. In Deutschland hingegen sind die Helfer auf sich allein gestellt. Ist das richtig?
Mir erscheint der britische Weg durchaus zielführend. Was aber Deutschland unbedingt in der EU voranbringen sollte, wäre ein Fonds, aus dem alle aufnehmenden Gemeinden 5.000 Euro pro Flüchtling und Jahr erhalten. Bei fünf Millionen Flüchtlingen wären das 25 Milliarden Euro. Das würde den lokalen Autoritäten in Polen, Rumänien oder der Slowakei enorm helfen. Es käme aber auch Deutschland zugute. Jetzt, wo die Empathie und der Schock in Europa am größten sind, wäre der richtige Moment, das anzupacken - vor allem, weil es eine Quoten-Regelung nicht geben wird.
Wie lange, glauben Sie, werden die Menschen in Europa bleiben?
Zwei Beispiele aus der Geschichte habe ich hautnah miterlebt: Während des Bosnien-Krieges wurde eine Million Menschen ins Ausland vertrieben. Von ihnen sind Hunderttausende auch wieder zurückgekehrt - die meisten aber erst 1998, also drei Jahre nach Kriegsende, als ihre Zielregion minenfrei, wieder aufgebaut und sicher war. Nach dem Kosovo-Krieg hingegen ist eine Million Menschen sehr schnell zurückgekehrt. Das ist, was auch die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer wollen. Deshalb bleiben sie ja in der Nähe ihres Landes. Aber wie realistisch das ist, wird sich erst zeigen.
Wie kann das Grauen in der Ukraine enden? Gibt es eine Möglichkeit, Putin zu stoppen?
Er selbst und die Führung im Kreml werden an dem Ziel festhalten, die Ukraine zu zerschlagen. Deshalb müssen wir damit rechnen, dass es letztlich nur die Fähigkeit der Ukrainer zur Verteidigung ist, die diesen Vernichtungskrieg zum Scheitern bringen kann. Der Widerstand der - auch mit westlichen Waffen ausgerüsteten - ukrainischen Streitkräfte war bislang das Einzige, was Putin eingebremst hat.