Michel Friedman über Islam, Flüchtlinge und Obergrenzen

Michel Friedman, am Sonntag auf dem AZ-Podium in den Kammerspielen, über lebens- und liebesfeindliche Religion, den Islam in Deutschland und Obergrenzen in der Flüchtlingskrise.
Timo Lokoschat |
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Jugendliche auf einer salafistischen Kundgebung in Frankfurt. Michel Friedman kritisiert die Ausbildung der Prediger in den Moscheen.
dpa/AZ Jugendliche auf einer salafistischen Kundgebung in Frankfurt. Michel Friedman kritisiert die Ausbildung der Prediger in den Moscheen.

AZ: Herr Friedman, ein Drittel der Deutschen sagt, der Islam gehöre zu Deutschland, zwei Drittel verneinen dies. Zu welchem Teil zählen Sie sich?

2016 gehört der Islam in seiner gewaltfreien, moderaten Form zu Deutschland. Hier leben mehrere Millionen Muslime, davon die meisten als Deutsche mit deutscher Staatsbürgerschaft. Sie sind selbstverständlich gleichberechtigte Bürger. Das Grundgesetz formuliert in aller Klarheit für jeden Menschen den Anspruch auf Respekt und seine Würde. Dies gilt für Juden, Christen, Buddhisten und Atheisten, aber auch selbstverständlich für Muslime.

Viele Juden in Deutschland sagen: „Wir haben Angst. Da kommen lauter muslimische Antisemiten ins Land.“ Was antworten Sie denen?

Es stimmt und ist äußerst problematisch, dass in den arabischen Herkunftsländern vieler Flüchtlinge der Judenhass über den Staat Israel umgeleitet wird. Viele arabische Staaten und ihre politischen Führer kämpfen für die Zerstörung Israels. Dabei wird oft nicht differenziert zwischen Juden und Israelis.

Ich bin aber als deutscher Jude mindestens so beunruhigt über den explodierenden Anteil von rechtsradikalen geistigen Brandstiftern und tatsächlichen Brandstiftern. Judenfeindlichkeit ist Menschenfeindlichkeit, Ausländerfeindlichkeit ist Menschenfeindlichkeit. Sie kann sich derzeit so ungestört, wie ich es bisher nicht erlebt habe, mitten in unserer Gesellschaft austoben.

Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, sorgt sich ebenfalls vor importiertem Antisemitismus und hat eine Obergrenze für Flüchtlinge gefordert. Widersprechen Sie ihm?

Selbst fünf Millionen Flüchtlinge würden innerhalb der EU, die fast 500 Millionen Einwohner hat, gerade ein Prozent ausmachen. Selbst wenn in der Bundesrepublik Deutschland eines Tages acht Millionen Muslime leben würden, wäre die überwältigende Mehrheit nach wie vor christlich orientiert. Es zeugt von einem mangelnden Selbstbewusstsein, wenn diese Mehrheit Angst hat, dass sie das christliche Abendland nicht schützen kann. Eine Obergrenze ist ein Placebo, das der Bevölkerung verkauft wird, um den Eindruck einer Verbesserung des Zustands zu vermitteln.

Die Komplexität der Flüchtlingsfrage lässt eine solche Banalisierung nicht zu.
Letztlich bleibt die Frage – und sie ist nicht rhetorisch gemeint: Wie verhält sich der demokratische Rechtsstaat, wenn der X plus erste Flüchtling vor der Grenze steht?

Die CSU sieht es anders.

Ich halte es in aufgeregten, aufgeheizten Zeiten für richtig, einen kritischen und offenen Dialog mit der Bevölkerung zu führen. Populismus ist kein Beitrag zum Dialog.

Ist Horst Seehofer ein Populist?

Ihre Leser werden meinen Satz schon richtig interpretieren.

Am Sonntag sitzt der Psychologe Ahmad Mansour mit Ihnen auf dem Podium in den Kammerspielen. In seinen Aufsätzen beschreibt er eine „Generation Allah“, die durch Antisemitismus und Demokratiefeindlichkeit gekennzeichnet ist. Das seien nicht Zuwanderer, sondern hier lebende Muslime aus der zweiten und dritten Generation.

Auch hier gilt: Nicht alle über einen Kamm scheren. Aber es ist nicht zu leugnen, dass mitten in Deutschland – wir haben es während des Gaza-Kriegs erlebt – Muslime jüdische Bürger angegriffen haben und sie teils mit wüsten Beleidigungen bis hin „Geht doch alle ins Gas!“ beschimpft haben.

Es ist richtig, dass es in den letzten Monaten unter anderem in Berlin Beleidigungen und Körperverletzungsdelikte von muslimischen Jugendlichen gegenüber erkennbar jüdischen Menschen gegeben hat. Es wäre naiv zu bestreiten, dass nicht mindestens ein so großer Teil wie bei der deutschen christlichen Gesellschaft aus Judenhassern besteht.

„Zyniker vergiften sich mit ihrem Pessimismus selbst“
 

Unter Deutschen dürfte der Antisemitismus heute doch bei weitem nicht so verbreitet sein wie unter muslimischen Zuwanderern, die oftmals in einer stark antisemitischen Kultur sozialisiert worden sind.

Ich habe deshalb auch gesagt: mindestens. Das Feindbild braucht lange, um sich zu relativieren und aufzulösen. Für viele arabische Muslime, die diesen Hass auf Israel mit der Muttermilch mitbekommen haben, ist die Wirkung äußerst langwierig und langfristig – auch türkische Muslime sind durch Recep Tayyip Erdogan deutlich aufgehetzter als vor einem Jahrzehnt.

Kann man Menschen beibringen, keine Andersgläubigen mehr zu hassen?

Als Kind von Holocaust-Überlebenden, die sich entschieden haben, in Deutschland zu leben, und der ich mich auch entschieden habe, in diesem Land zu sein, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie vertrauen Menschen, das heißt, sie haben Hoffnung, oder sie misstrauen ihnen, das heißt sie werden Zyniker und vergiften sich mit diesem Pessimismus selbst.

Ich habe mich entschieden, den Menschen zu vertrauen. Verwechseln wir das bitte nicht mit Naivität. Hätte man dieses Vertrauen nicht weltweit wieder in Deutschland investiert, dann würde die Bundesrepublik heute nicht da stehen, wo sie ist.

Distanzieren sich islamische Geistliche in Deutschland ausreichend von Gewalt und Intoleranz?

Es ist ein großes Versäumnis der Bundesrepublik Deutschland, über Jahrzehnte die Moscheen und damit die Prediger sich selbst überlassen zu haben. Ich halte es für hochproblematisch, dass islamische Religionslehrer, Priester und Prediger von Ländern wie Saudi-Arabien – einem totalitären, archaischen Staat, der die Scharia höher hält als weltliche Werte und Gesetze – ausgebildet werden.

Über Jahrzehnte wurde ein Netz von Predigern und Lehrern gestrickt, die statt ein Miteinander ein Gegeneinander vertreten haben.

Auch ein Teil der aus der Türkei finanzierten geistlichen Repräsentanten sind in der Frage der Frauenrechte oder der sexuellen Vielfalt keine optimalen Vertreter.
Spät, sehr spät, aber noch nicht zu spät wachen die Parteien und Regierungen in dieser Frage auf. Es wird allerdings lange brauchen, um die Fehler durch richtige Konzepte zu kompensieren.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat vor einigen Monaten angeregt, die Zuwanderung durch Muslime könne für Christen in Deutschland eine Gelegenheit sein, sich stärker mit den eigenen christlichen Wurzeln zu beschäftigen. Ist mehr Religiosität die richtige Reaktion?

Ich kann mir vorstellen, dass viele Menschen, die sich als Christen definieren – übrigens gibt es das gleiche Phänomen beim Judentum – keine tiefe und alltägliche Beziehung zu ihrer Religion haben. Sie sind nicht mehr fromm. Sie leben nicht im Alltag nach ihrem Glauben. Sie gehen, wenn überhaupt, Weihnachten und Ostern in die Kirche. Vielleicht irritiert, ja schreckt es uns, mit Menschen konfrontiert zu werden, die ihre Religion ernst nehmen und danach leben.

Kardinal Lehmann hat mir schon vor vielen Jahren gesagt, ein frommer Christ könne viel leichter mit einem frommen Moslem umgehen, weil beide ihre Religionsausübung als prägendes Identitätsmerkmal empfinden. Vielleicht wollte Bundeskanzlerin Angela Merkel dies mit ihrer Anregung offenlegen.

 

„Deswegen unterstütze ich die Politik von Angela Merkel“

 

Strenggläubige beider Religionen dürften sich auch einig sein in ihrer Intoleranz – zum Beispiel gegenüber gleichgeschlechtlicher Liebe.

Ich muss hier das Judentum hinzufügen. Alle drei monotheistischen Weltreligionen stigmatisieren die sexuelle Selbstbestimmung. Ich halte dies in einer modernen Welt für unerträglich. Die Religionen unterstellen, dass jegliche Sexualität außer der Heterosexualität entweder eine Krankheit oder Missbildung der Natur ist. Dieser Gedanke ist ein reaktionärer Skandal.

Man könnte auch provokativ fragen: Sind diese Menschen etwa nicht Kinder Gottes? Und wenn Gott der Allmächtige ist, müsste er doch genau diese Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit gewollt haben. Wenn aber Gott sie so geschaffen hat, warum wagt der Mensch, sie so vernichtend zu definieren?

Jeder, der Mitmenschen mit einer selbstbestimmten Sexualität so diskriminiert, verstößt übrigens auch gegen ein weltliches Gesetz, nämlich Paragraf 1 des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Die Würde des Menschen gilt vielen auch als Leitlinie für Bundeskanzlerin Angela Merkel Flüchtlingspolitik. Ist sie auch richtig?

Von allen politischen Konzepten, die in der Gegenwart angeboten werden, ist das von Bundeskanzlerin Angela Merkel für mich das ehrlichste. Die EU steht kurz vor dem Zusammenbrechen: Konfrontation statt Kooperation, Grenzen statt Offenheit, Nationalismus statt Vielfalt.

In dieser Gemengelage muss das führende Land Europas so lange wie möglich eine klare Orientierung geben: Jeder Flüchtling ist ein Mensch. Jeder Mensch ist so viel wie die ganze Welt. Die EU ist die einzige friedliche Zukunftskonzeption dieses Kontinents. Weltkriege, Regionalkriege, Bürgerkriege, Religionskriege haben diesen Kontinent über Hunderte Jahre in ein Schlachtfeld verwandelt. Deswegen unterstütze ich Bundeskanzlerin Angela Merkel Politik.

Schaffen wir das?

Wenn Menschen etwas wollen, können sie Berge versetzen. Sie können sich selbst überraschen. Meine Eltern und meine Großmutter sind Überlebende des Holocaust, weil sie auf Schindlers Liste standen. Die meisten Nachkriegsdeutschen fragten: Was kann denn der Einzelne tun, was hätten wir denn damals tun können?

Oskar Schindler tat etwas, er rettete 1000 Menschen. Wenn selbst im Dritten Reich Menschen Menschen bleiben konnten, dann können wir, die wir heute leben, alles tun – wenn wir es nur wollen.

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