Merkel: "Wir sind noch längst nicht da"
Berlin - "Die Realität ist oft anders, als ich mir das wünschen würde", sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel. Es ist einer von vielen ruhig vorgetragenen, wohldurchdachten Sätzen, mit denen sie an diesem diesigen Sommertag im Haus der Bundespressekonferenz mehr als eine Stunde lang Fragen von Journalisten pariert. Politische Gegner und Rivalen, die nach ihren Zitteranfällen bei mehreren öffentlichen Anlässen vielleicht auf einen vorzeitigen Abgang Merkels gehofft haben, werden sich wohl noch eine Weile gedulden müssen.
Der Satz mit der "Realität" bezieht sich auf Russland, zu dem Merkel gerne ein besseres Verhältnis aufbauen würde, was aber angesichts der Vorliebe von Präsident Wladimir Putin für Europas Rechtspopulisten kein leichtes Unterfangen ist. Doch es gibt auch noch andere Bereiche, in denen die Realität aus Sicht der Regierungschefin zurzeit einiges zu wünschen übrig lässt. Die immer noch ausstehende europäische Lösung in der Migrationsfrage zählt dazu, das in der Koalition umstrittene Klimakonzept und auch die Umfrage-Ergebnisse für ihre Partei, die CDU.
Merkel: "Das Vertrauen der Wähler in die CDU wächst wieder"
Merkel sagt, dazu, dass das Vertrauen der Wähler in die CDU wieder wächst, wolle sie als Bundeskanzlerin ihren Beitrag leisten "und Annegret Kramp-Karrenbauer leistet ihren Beitrag als Parteivorsitzende". Und: "Ich glaube, wenn wir das ruhig weitermachen, dann werden wir auch wieder etwas bessere Umfragewerte haben."
Zufriedene Bürger, die sich nach Verlässlichkeit und Halt in einer immer hektischeren Welt sehnen, mag diese ruhige, sachliche Herangehensweise überzeugen. Die eher für Emotionen empfänglichen Angst- und Wutbürger erreicht man mit der von Merkel perfektionierten Strategie des Vermeidens kontroverser Positionen aber wohl kaum.
Bevor die Journalisten Fragen stellen dürfen, nutzt Merkel die traditionelle Pressekonferenz vor dem kurzen Sommerurlaub für einen kleinen Regierungs-Werbeblock. Baukindergeld, mehr Wohngeld, ein "Pakt für Forschung und Innovation", der höhere Mindestlohn. Die Kanzlerin zählt auf, was die Große Koalition seit März 2018 geschafft hat. Bei Klima und Migration – zwei Themen, die zurzeit laut Wählerumfragen besonders viele Menschen bewegen – muss sie jedoch auf den Herbst verweisen. Da soll die EU dann eine Lösung für die Aufnahme von aus Seenot geretteten Migranten finden. Die Regierung will dann erklären, mit welchen Maßnahmen sie den Ausstoß von klimaschädigenden Treibhausgasen reduzieren will.
Merkel: "Ein neuer Zusammenhalt für unser Land"
"Ein neuer Zusammenhalt für unser Land" steht auf der ersten Seite des Koalitionsvertrages, den CDU, CSU und SPD geschlossen haben. Doch wer sich die Grafik zu den Ergebnissen der Europawahl in Deutschland anschaut, stellt fest, dass das bisher nicht gelungen ist: Der Westen wird immer grüner, im Osten dominiert vielerorts das Blau der AfD. Die Traditionsparteien CDU und SPD tun sich schwer. Gleichzeitig wächst die Kluft zwischen reichen und armen Städten.
"Wir sind auf dem Weg, aber wir sind noch längst nicht da", räumt Bundeskanzlerin Angela Merkel ein. Und zählt dann – ganz sachlich – auf, wie es gehen könnte mit den "gleichwertigen Lebensverhältnissen". Durch die Ansiedlung von Bundesbehörden in strukturschwachen Regionen und mit Wirtschaftsförderung für Gemeinden, in denen heute nur noch wenige junge Menschen leben.
Dabei hat sie die Emotionen in diesen Regionen, wo ihr als Regierungschefin oft blanker Hass entgegenschlägt, eigentlich schon ganz gut analysiert. Die Trauer der Alten in Hoyerswerda, die ihre Enkel in Stuttgart so selten sehen. Den Ärger der Hausbesitzer in Vorpommern, die auf Windräder gucken. Die Enttäuschung ehemaliger Industriearbeiter, deren Fähigkeiten heute genauso wenig gefragt sind wie ihre Überlebensstrategien aus der Zeit des "real existierenden Sozialismus", als man "Tomatenmark hamstern" und "Tauschbörsen anlegen" musste.
Merkel: "Wir sind auf dem Weg, aber wir sind noch längst nicht da"
Nur wie Merkel und Kramp-Karrenbauer die hochemotionalisierten Menschen in Görlitz und Gelsenkirchen mit ihrer nüchternen Politik der kleinen Schritte gewinnen wollen, bleibt offen. Genauso wie die Frage, wen sich die AfD wohl demnächst als neues Lieblingsfeindbild ausgucken wird. Denn "Merkel muss weg!" zu rufen, macht den Rechtspopulisten sicher nur noch halb so viel Spaß, seitdem Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren Rückzug aus der Politik für 2021 angekündigt hat.
Doch bevor nicht endgültig klar ist, ob Kramp-Karrenbauer dann am Ende tatsächlich das Rennen um die Kanzlerkandidatur der Union gewinnt, wollen sich die Rechtsnationalen und Populisten lieber nicht festlegen.
Durch die Jahre mit Angela Merkel - so hat sie sich verändert