Merkel überrundet Adenauer als CDU-Vorsitzende

Einst als Übergangskandidatin unterschätzt, inzwischen Führungsfigur in Europa und jetzt auch noch als "Flüchtlings-Kanzlerin" gefeiert. Von Lohn und Last des Erfolgs der Angela Merkel, die die CDU länger führt als deren Mitbegründer Konrad Adenauer.
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10.04.2000: Angela Merkel wird an die Spitze der CDU gewählt.
dpa 10.04.2000: Angela Merkel wird an die Spitze der CDU gewählt.

Berlin - Konrad Adenauer war 90 Jahre alt, als er 1966 den CDU- Vorsitz an Ludwig Erhard abgab. 5633 Tage hatte er die damals junge Partei geführt, zu deren Mitbegründern er zählt. Bekennender und praktizierender Katholik, Verfechter der sozialen Marktwirtschaft, ein Mann, der auf die Wiedervereinigung hoffte und die Kommunisten verachtete. Die Partei und das Land prägte Adenauer, der erste deutsche Kanzler (1949 bis 1963), mit der Bindung an den Westen.

Am 12. September ist Bundeskanzlerin Angela Merkel einen Tag länger als Adenauer an der Spitze der Christdemokraten. Sie ist 61 Jahre alt, seit fast zehn Jahren Regierungschefin, nun auch "Flüchtlings-Kanzlerin" und seit längerem Führungsfigur in Europa. Politisch stark wie nie. Karriere- Ende nicht absehbar. Was von ihrer Ära hauptsächlich in Erinnerung bleiben wird, ist noch nicht ausgemacht. Ihre nun im Ausland als vorbildhaft gelobte Flüchtlingspolitik hätte das Potenzial dazu.

Freunde wie Feinde trauen ihr noch alles zu. Alles - das heißt: Adenauers 14-jährige Amtszeit als Kanzler übertreffen und sogar Helmut Kohl einholen, den Rekordkanzler, der 16 Jahre regierte und für einige Parteimitglieder trotz Spendenaffäre noch der CDU- Übervater ist. Dafür müsste Merkel zur Bundestagswahl 2017 erneut antreten, gewinnen und die volle Legislaturperiode durchmachen.

Derzeit mag man sich in der CDU gar nichts anderes vorstellen, als dass es Merkel noch einmal für die Union reißen wird. Ausgerechnet die Frau aus der DDR, die Pfarrerstochter, die Physikerin. Die, die oft als spröde, emotionslos und kühl gilt. Die Kinderlose, in zweiter Ehe Verheiratete, die in der CDU erst spöttisch und dann später anerkennend "Mutti" genannt wird. Und jetzt, da sie die deutschen Tore für Kriegsflüchtlinge weit aufgestoßen hat, rufen Hilfesuchende fremder Kulturen "Mama". Merkel auf dem Weg zur Übermutter.

Wie hält die Frau diesem Druck stand? Hat sie Angst, zu versagen? Ist es für sie vielleicht schwerer zu schultern, die von ihr selbst geweckten Hoffnungen dauerhaft zu erfüllen, als Anfeindungen zu ertragen? "Das ficht mich nicht an", sagt Merkel gern, wenn sie verunglimpft wird. Politiker müssten das aushalten können. So wie sie auf Plakaten mit Hitler-Bärtchen abgebildet wurde, weil sie einen harten Sparkurs für Griechenland durchsetzte. Oder im Ausland für "gefährlich" gehalten, als "eiserne Deutsche" oder "Terminator" - und im Inland als "Eiskönigin" betitelt wurde.

Nun aber hat Merkel in wenigen Tagen mit einer großzügigen Flüchtlingspolitik Deutschland zum Vorbild in der Welt macht. Weil es schon seit längerem nicht mehr der deutschen Wirklichkeit entsprach, syrische Flüchtlinge von hier aus nach dem sogenannten Dublin-Abkommen in das Land zurückzuschicken, wo sie erstmals EU-Boden betraten, setzte Deutschland die Regelung aus.

Merkel will deutsche Flexibilität statt deutsche Gründlichkeit. Die Menschen in und außerhalb Deutschlands sind begeistert. Im Internet regnete es postwendend syrische Liebesbotschaften an Merkel. Gedichte wurden ihr geschrieben, man pries sie als "mitfühlende Mutter". Kurze Zeit später hatten in Ungarn angekommene Flüchtlinge nur ein Ziel: "Germany", "Merkel". Ein Mann im Rollstuhl hielt einen Zettel hoch. Darauf stand: "Merkel please help me." In Deutschland machten sich Bürger zu den Bahnhöfen auf, um Flüchtlinge jubelnd zu begrüßen. Flexibel, motiviert, unbürokratisch.

Noch nie hat Merkel öffentlich so viel Zuneigung erfahren. Ficht sie das auch nicht an? Oder wie sieht es da in ihrem Innersten aus? "Ich finde das schon durchaus bewegend", bekennt Merkel. Ist ihr das nicht unheimlich, dass sich alles auf sie konzentriert? Ihre Antwort: "Ich bilde mir nicht ein, dass es nur um mich geht, sondern dass es um das Land geht, um die Menschen, um die vielen, die am Bahnhof stehen, um die vielen, die begrüßen", sagt sie am Montag nach einem, wie sie sagt, "atemberaubenden" Wochenende neuer deutscher Willkommenskultur.

Die Bevölkerung kennt Merkel seit langem als uneitel und unprätentiös. Sie gilt als unbestechlich. Geld interessiert sie nicht so sehr. Sie verdiene genug, hat sie einmal gesagt. Auf etwa 300 000 Euro wird das Jahresgehalt geschätzt, das die Regierungschefin für ihre Verantwortung für rund 80 Millionen Menschen bekommt. Ein Bruchteil der Summen von Firmenbossen mit einigen Tausend Beschäftigten. Ihr Lohn sei die Macht, soll Merkel einmal gesagt haben. Die Macht, dass es am Ende so gemacht wird, wie sie es will.

Im November ist Merkel zehn Jahre Bundeskanzlerin. Ins Geschichtsbuch kommt sie schon aufgrund der reinen Fakten: Als erste Frau, als erste Ostdeutsche an der Spitze der im Westen groß gewordenen Volkspartei CDU und erste Bundeskanzlerin. Inhaltlich wird hängen bleiben, dass die Protestantin die CDU weit in die politische Mitte gerückt hat: Atomausstieg, Ende der Wehrpflicht, modernes Familienbild.

Auch ihr Kampf um die Stabilisierung der europäischen Währung ("Scheitert der Euro, scheitert Europa") und ihr Bemühen um Frieden in der Ukraine dürften haften bleiben. Die größte Herausforderung könnte aber die Flüchtlingspolitik werden. Denn sie birgt auch die wohl größte Gefahr für ein Scheitern als Kanzlerin.

Schafft es Merkel mit ihrer großen Koalition nicht, dass Hunderttausende, womöglich sogar Millionen Migranten in Deutschland integriert werden, könnte die jetzt noch so offenherzige und hilfsbereite Stimmung in der Bevölkerung kippen. Damit wäre Merkels Wiederwahl 2017, an der derzeit sogar die SPD keinen Zweifel hegt, gefährdet. So wie der Superlativ, Adenauer und Kohl zu überrunden.

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