Merkel: Der Dämpfer aus dem eigenen Lager

Dämpfer für die alte und neue Kanzlerin: Nur 323 Abgeordnete wählen sie wieder ins Amt. Das langt zwar bequem – aber neun der eigenen Leute verweigern sich. Das AZ-Protokoll des Merkel-Tags
9 Uhr: Im Reichstagsgebäude kommen die Fraktionen zum sogenannten Zählappell zusammen. Die Zuchtmeister von CDU, CSU und FDP atmen auf: Alle Abgeordneten sind anwesend, keiner ist krank oder hat verschlafen. Also dürfte die Wahl Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der satten schwarz-gelben Mehrheit im Bundestag glatt über die Bühne gehen. Die Opposition rechnet sich dagegen keine wirklich Chance aus, Merkels Wahl zu verhindern. Mindestens drei Abgeordnete aus dem rot-rot-grünen Lager schwänzen die Abstimmung oder fehlen wegen Krankheit.
9.50 Uhr: Merkel betritt das Plenum im schwarzen Hosenanzug, darunter blitzt ein weißes Top hervor. Ihr Vizekanzler Guido Westerwelle begrüßt sie artig mit einem Diener, die künftigen Kabinettsmitglieder plaudern entspannt miteinander. So manche designierte Ministerin war in der Früh noch extra beim Friseur. Sollen ja schöne Bilder werden bei der Vereidigung später. In der SPD-Fraktion rücken die frisch entlassenen Minister dagegen zurück ins parlamentarische Glied. Für Steinmeier, Gabriel, Ulla Schmidt & Co. ist es ein ganz bitterer Vormittag. Machtverlust tut ganz schön weh.
10 Uhr: Bundestagspräsident Norbert Lammert eröffnet die Sitzung. Er teilt mit, dass Bundespräsident Horst Köhler den Abgeordneten nach Paragraph 63, Absatz eins des Grundgesetzes vorschlage, Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Kanzlerin zu wählen. Der 17. Bundestag zählt 622 Abgeordnete, die nötige absolute Mehrheit beträgt 312 Stimmen. Die braucht Merkel. Der Wahlgang ist eröffnet.
10.30 Uhr: Während die Abgeordneten in Wahlkabinen geheim ihr Stimme abgeben, saust die alte und neue Familienministerin Ursula von der Leyen auf die Ehrentribüne, wo stolz ihr Mann und fünf der sieben Kinder sitzen. Man knuddelt sich. Nüchterner geben sich eine Reihe vor der Leyen-Familie Horst und Herlind Kasner, die Eltern von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Natürlich sind auch sie stolz, wenngleich sie es nicht so sehr zeigen. Merkel-Gatte Joachim Sauer ist nicht zu sehen. Unten im Plenum checkt Bundeskanzlerin Angela Merkel ihr Handy, plaudert ein wenig mit ihrer Vertrauten Annette Schavan, wechselt sogar mit dem Ober-Grünen Trittin ein paar Höflichkeitsfloskeln.
10.53 Uhr: Mitarbeiterinnen der Bundestagsverwaltung schleppen hastig Blumen ins Plenum und verstauen sie unter den Bänken. Ein ummissverständliches Signal: Es hat geklappt mit der Merkel-Wahl. Zugleich fährt plötzlich Leben in die Opposition: Steinmeier, Trittin und Gysi stecken die Köpfe zusammen, lästern. Es scheint doch nicht alles glatt gegangen zu sein für Schwarz-Gelb.
10.58 Uhr: Lammert gibt das Ergebnis bekannt: 612 abgegebene Stimmen, davon 323 Ja, 285 Nein, vier Enthaltungen. Zehn Abgeordnete nahmen nicht an der Abstimung teil. Das entspricht einer Zustimmung von 52,8 Prozent für Merkel. CDU, CSU und FDP applaudieren Freude, aber nicht frenetisch.
11.01 Uhr: Merkel nimt das Mikrofon, sagt: „Ich nehme die Wahl an und bedanke mich für das Vertrauen.“ Lammert wünscht ihr „für die Bewältigung der großen Aufgabe, die vor Ihnen liegt, Kraft, Erfolg und Gottes Segen“.
11.05 Uhr: Die Sitzung wird unterbrochen, Merkel rauscht ab zum Bundespräsidenten, der sie vereidigen wird. Im Bundestag wird heftig diskutiert: Warum haben mindestens neun Abgeordnete von CDU, CSU und FDP ihr die Stimme versagt? Es gibt zwei Arbeitshypothesen: Frustration darüber, keinen Job als Minister oder Staatssekretär erhalten zu haben - oder mit dem Ressort unzufrieden zu sein. Und Wut über die im Koalitionsvertrag versprochene Steuersenkungsarie oder die angekündigten Gesundheitsreformen. Während die Opposition feixt, stellt das Regierungslager demonstrative Gelassenheit zur Schau: Auch Kanzler wie Kohl oder Schröder hätten nie alle Stimmen aus dem eigenen Lager bekommen, wiegeln die Fraktionsbosse ab.
13.01 Uhr: Lammert eröffnet die Bundestagssitzung wieder. Auf der Tribüne sitzen jetzt auch die engsten Mitarbeiterinnen Merkels, Büroleiterin Beate Baumann und Medienberaterin Eva Christiansen. Der Kanzler-Freundinnenkreis um Friede Springer und Sabine Christiansen fehlt diesmal. Merkel geht zum Bundestagspräsidenten, legt mit leiser, fast schüchterner Stimme den Amtseid ab: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.“ Dann fügt sie hinzu: „So wahr mir Gott helfe.“ Im Unterschied zu 2005 hebt Merkel diesmal nicht die Hand zum Schwur, vielleicht hat sie es in der Aufregung vergessen. Prompt lästern die Berliner Fotografen: „Die hat's verpennt, die hat die Flosse nicht gehoben.“
14.03 Uhr: Und wieder geht’s ins Schloss Bellevue: Diesmal erhalten die Minister ihre Ernennungsurkunden.
14.08 Uhr: Köhler wünscht allen „Gottes Segen.“
14.50 Uhr: Die frisch ernannten Minister, alle im festlichen dunklen Tuch, sind zurück im Bundestag. FPD-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger stellt selbstbewusst ihre Tasche auf die Regierungsbank. Sie sitzt neben Wolfgang Schäuble und Thomas de Maizière in der ersten Reihe. Man herzt und knuddelt sich fraktionsübergreifend - einmal noch, ehe das politische Tageshickhack wieder losgeht.
15 Uhr: Lammert liest die Namen der Minister vor, es herrscht andächtige Stille, Schwarz-Gelb klatscht nach jedem Namen. Nur als Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel aufgerufen wird, schallt Gelächter durchs Plenum. Der arme Tropf, der sich dieses Ressort alles andere als gewünscht hat, muss als einziger Minister in der dritten Reihe Platz nehmen - wo sonst nur Regierungssprecher Ulrich Wilhelm hockt. Dann wird einer nach dem anderen vereidigt. Anders als frühere rote und grüne Minister fügt jeder aus der liberal-konservativen Riege brav den freiwilligen Satz „So wahr mit Gott helfe" hinzu. Als mit Kanzleramtschef Ronald Pofalla der letzte Minister vereidigt ist, sackt eine Saaldienerin hinter dem Bundestagspräsidenten mit Kreislaufproblemen zusammen, muss weggetragen werden. Hoffentlich kein schlechtes Omen für die „Koalition der Mitte“.
Und schon geht es an die Arbeit: Im Anschluss tagt das Kabinett. Und noch am Abend bricht Bundeskanzlerin Angela Merkel zu ihrer ersten Auslandsreise auf: nach Paris zu Nicolas Sarkozy. Markus Jox