„Mein Papa ist gestern nicht nach Hause gekommen“
Lisas Familie hat keine Toten und keine Verletzten zu beklagen. Und doch gehört sie zu den Opfern. Als die 41-jährige Managerin am Abend des Anschlags endlich ihre beiden Kinder in die Arme schließen kann, fällt ihr vor allem das Schweigen ihres achtjährigen Sohnes Dominik auf. „Er saß da, starrte vor sich hin und brach plötzlich in Tränen aus“, erzählt sie. Dann schießt es aus ihm heraus: In der Schule habe der Lehrer von den Anschlägen erzählt und er habe den ganzen Nachmittag gedacht: „Meine Mama ist tot.“ Denn zum ersten Mal seit Monaten hatte Lisa die Metro zur Arbeit genommen.
Es ist der Tag danach. Brüssel fühlt sich an, als habe eine neue Zeitrechnung begonnen – es gab eine Zeit vor dem 22. März und jetzt ist die Zeit danach. Schwer bewaffnetes Militär patrouilliert – unterstützt von der Polizei – durch die Stadt. In der Häuserfront, unter der die Metro-Station Maelbeek liegt, klafft ein dunkler Schlund, den man mit Rollläden nur notdürftig verschlossen hat. 20 Menschen fanden hier den Tod, über 100 wurden verletzt. „Du fehlst mir“, steht auf einem kleinen Zettel geschrieben, davor steht eine in Tränen aufgelöste Frau. „Er wollte doch nur mit der Metro in die Stadt fahren“, flüstert sie. Er, das ist ihr Sohn Stéphane. Nun liegt er da unten. Er wurde gerade mal 20 Jahre alt.
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Es ist der Tag der Trauer. Für eine Minute hält Belgien den Atem an, im ganzen Land läuten die Kirchenglocken. Die Menschen brauchen etwas, woran sie sich festhalten können. Trost, Zuspruch, Mitgefühl – zu grausam sind die Geschichten, die an diesem Tag nach den Anschlägen mit 35 Toten und über 270 Verletzten bekannt werden. Wie das Schicksal der 36-jährigen Peruanerin Adelma Tapia Ruiz, die mit ihrem Mann und den vierjährigen Zwillingstöchtern am Check-in des Flughafens in Zaventem stand. Als die beiden Mädchen Maureen und Alondra spielend umherliefen, ging ihr belgischer Ehemann den Kindern nach. In dem Moment explodierte der erste Sprengsatz. Ruiz war sofort tot – vor den Augen ihres Mannes und ihrer Töchter.
„Ich bringe es nicht fertig, meine Stadt entstellt zu erleben“
Auf dem Platz vor der Börse in der Innenstadt versammeln sich immer wieder Menschen, legen Blumen, Kerzen und Transparente nieder. „Je suis Bruxelles“ (Ich bin Brüssel) heißt es auf Plakaten. Oder auch einfach nur: „Warum“? Alexander (24) hat seinen Freund verloren. Die beiden Studenten sind am Dienstagmorgen spät dran gewesen. Am Umsteigebahnhof Arts-Loi, eine Haltestelle vor Maelbeek, hatten sie ein Wettrennen gemacht, wer die Metro, die schon eingefahren war, noch erwischt. „Er schaffte es, ich nicht“, erzählt Alexander. „Dann hörte ich plötzlich diese ohrenbetäubende Explosion, eine Staubwolke raste durch den Tunnel.“ Er sah seinen Freund nie wieder. Brüssel wirkt gespenstisch.
Zwar fahren seit dem frühen Morgen die Vorortzüge wieder, um die Pendler in die City zu bringen. Doch viele Unternehmen und Behörden haben es ihren Angestellten freigestellt, zu Hause zu bleiben. „Ich kann das nicht, ich bringe es nicht fertig, meine Stadt entstellt zu erleben“, sagt mir eine Bekannte, die in einer Randgemeinde lebt. Am Tag zuvor hatte sie Stunden warten müssen, ehe sie erfahren hat, dass ihr Mann noch lebt. In vielen Schulen, die wie zum Trotz ihren normalen Betrieb aufrechterhalten, gibt es an diesem Tag nur ein Thema: „Was habt ihr erlebt?“ Antoine (35) unterrichtet an einer Grundschule und erzählt, er habe über Stunden hinweg nur zugehört, „weil die Kinder reden wollten. Jeder hat irgendeinen Bezug zu den Anschlägen.“ Erst gegen Ende der Schulstunde bemerkte er, dass ein Mädchen gar nichts sagte, aber mit roten Augen vor sich hinstarrte. Er habe sie angesprochen, immer wieder.
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Erst nach der Stunde sei sie zu ihm gekommen und hätte leise gesagt: „Mein Papa ist gestern nicht nach Hause gekommen.“ Brüssels Wunden sind tief. Noch wochenlang werde die Metro-Station Maelbeek geschlossen sein und damit zwei wichtige Linien unterbrochen, teilte die Verkehrsgesellschaft am Mittwoch mit. Damit ist das gesamte EU-Stadtviertel vorerst nicht mehr mit der U-Bahn erreichbar.
Der Flughafen will am Freitag wieder seinen Betrieb aufnehmen. Noch weiß niemand, wie lange es dauern wird, das völlig zerstörte Abflugterminal abzureißen und wieder aufzubauen. Doch solche Nachrichten gehen am Tag nach dem Angriff auf Brüssel unter. Gebäude kann man reparieren, zerstörte Schienen und Metro-Züge ersetzen. Die menschlichen Wunden aber bleiben. Brüssel wird noch viel Zeit und Kraft brauchen, um mit seiner neuen Zeitrechnung klarzukommen. Der 22. März 2016 hat alles verändert.
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