Martin Schulz: „Die Spaltung Europas ist da“

AZ: Herr Schulz, kann man nach so einem Krisenjahr als Präsident des Europäischen Parlaments noch glühender und optimistischer Europäer sein?
MARTIN SCHULZ: Gerade in solchen Zeiten muss man seinen Optimismus aufrechterhalten. Wenn die Pro-Europäer jetzt auch noch pessimistisch würden, dann erreichen wir ganz sicherlich das Gegenteil von dem, was wir brauchen.
Die Regierung in Polen entfernt die EU-Fahnen bei Pressekonferenzen und will nun keinen einzigen Flüchtling mehr aufnehmen. Das Land erhält 2016 einen zweistelligen Milliardenzuschuss der EU. Wie können Sie das einem europäischen Steuerzahler erklären?
Die neue polnische Ministerpräsidentin Beata Szydlo war diese Woche zum ersten Mal beim Europäischen Rat dabei. Da waren ihre Wortbeiträge deutlich maßvoller, als man das aus dem Wahlkampf kannte. Im Übrigen hat die polnische Regierung angekündigt, dass sie mehr Subventionen für ihre Bauern haben möchte. Wir werden im nächsten Jahr die sogenannte finanzielle Vorausschau, das ist die mittelfristige Finanzplanung der EU, überprüfen. Da kann jeder seine Karten auf den Tisch legen. Ich nehme an, dass die Nettozahler, die zur Zeit auch die Hauptlast der Flüchtlingskrise tragen, dann auch ihre Forderungen auf den Tisch legen werden, und so bieten diese Verhandlungen die Chance, dass wir wieder zusammenkommen.
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Sie nehmen also nicht jedes scharfe Wort der ungarischen oder polnischen Regierung ernst, vieles mag auch an die eigene Bevölkerung gerichtet sein?
Das kann man oft nicht so genau unterscheiden, manches ist für den heimischen Markt, manches richtet sich an Europa. Man muss das schon ernst nehmen, aber ich bin nicht für Konfrontation. Ich glaube immer noch, dass wir bei einigermaßen rationalem Vorgehen zu vernünftigen Kompromissen kommen. Aber ganz sicher ist es so, dass die Nettozahlerstaaten bei der Überprüfung der Finanzstruktur der EU natürlich die Bewältigung der Flüchtlingskrise an die allererste Stelle setzen wollen, wenn es um die Finanzierung geht.
Ist die mangelnde Solidarität anderer europäischer Länder bei der Aufnahme von Flüchtlingen ein Punkt, an dem die EU zerbrechen kann?
Die Spaltung innerhalb Europas ist da. Und ich gebe zu: Ich hätte sie in dieser Intensität nicht erwartet. Aber das heißt ja nicht, dass wir darüber auseinanderbrechen müssen. Nach wie vor glaube ich daran, dass wir Wege finden, um zu einer solidarischen Lastenverteilung zu kommen. Es muss eine Einsicht geben, dass man auf ein globales Problem wie die Migration, es sind derzeit weltweit etwa 60 Millionen Menschen auf der Flucht, nicht mit nationalen Alleingängen antworten kann. Das ist unmöglich.
"Europäische Solidarität muss für alle Themen gelten!"
Haben Sie teilweise Verständnis für diese Verweigerungshaltung von EU-Mitgliedern?
Es gibt sicher unterschiedliche Motive. Da gibt es in manchen Ländern teilweise große soziale, kulturell-religiöse und auch ethnische Spannungen. Und die Befürchtung, dass sich die Spannungen durch die Aufnahme von vielen Flüchtlingen noch verstärken würden. Die meisten Länder haben sich aber gleichzeitig mit der Zustimmung zur Quote an der Verteilung beteiligt. Das muss man deutlich sagen. Man kann in der EU sicher länderspezifische Bedingungen erkennen und darauf auch Rücksicht nehmen. Aber es kann nicht sein, dass Solidarität nach dem Rosinenpickverfahren läuft. Man kann nicht militärische Unterstützung oder Sanktionen fordern, wenn man sich bedroht fühlt, oder mehr Wirtschaftsförderung, und sich dann überhaupt nicht am Solidarprojekt Flüchtlinge beteiligen. Europäische Solidarität muss für alle Themen gelten!
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Was sehen Sie als das gravierendere Problem für Europa: Die starken nationalistischen Strömungen oder die auch weiterhin hohe Zahl von Flüchtlingen, die bei uns Schutz suchen.
Wir müssen doch ganz nüchtern sein. Diese nationalistischen Tendenzen hatten wir überall in Europa schon lange vor der Flüchtlingskrise. Das ist nichts Neues. Mich überrascht diese Stärkung der nationalistischen Strömungen nicht. Es ist schon seit Jahren absehbar, dass es ein riesiges Protestpotenzial gibt. Das wird nun durch die Flüchtlingskrise verstärkt. Beides bereitet mir natürlich Sorgen. Zugleich sind es ja genau diese populistischen Parteien, die den Druck ausüben, sich an der Flüchtlingskrise nicht zu beteiligen. Insofern bekommen wir die Flüchtlingskrise auch deshalb nicht in den Griff, weil die Rechtspopulisten eine Lösung verhindern. Das macht mir Sorgen.
„Erfolg gilt als national, Misserfolg als europäisch“
Jeder nörgelt über Europa, kaum jemand betont die Vorteile. Verzweifeln Sie persönlich manchmal an der Anti-EU-Stimmung in Europa? Ist das ein Marketingproblem der EU?
Den Begriff Marketingproblem finde ich passend. Denn, um Ihre Frage zu beantworten, muss man eigentlich eine andere hinzufügen: Wer ist eigentlich die EU? Die EU besteht aus ihren Mitgliedsstaaten. Wir sind kein Bundesstaat mit einer Bundesregierung in Brüssel, mit einem Bundesparlament, in dem Deutschland ein Bundesstaat ist. Die EU ist nur so stark, wie ihre Mitgliedsstaaten sie stark sein lassen.
Aber die Mitgliedsstaaten der EU haben sich angewöhnt, im Erfolgsfall diesen für ihre nationalen Regierungen zu reklamieren. Wenn etwas aber nicht funktioniert, dann sind „die da in Brüssel“ schuld. Aber „die da in Brüssel“ sind die gleichen Regierungschefs, die in den einzelnen EU-Regierungen sitzen. Dieses seit Jahrzehnten praktizierte Schwarze-Peter-Spiel, der Erfolg ist national, der Misserfolg ist europäisch, der hat zu diesem Image geführt, das ist natürlich verheerend.
„Ich empfehle Helmut Schmidts letztes Buch“
Ihre Prognose, bitte: In welchem Jahr wird die Türkei vollwertiges EU-Mitglied sein?
Wir nehmen ja nun erneut die Verhandlungen mit der Türkei auf. Und es hängt davon ab, ob die Türkei die wirtschaftlichen, aber auch die rechtsstaatlichen Voraussetzungen, die in den Kopenhagener Kriterien festgelegt sind, vollständig erfüllt und auch den Rechtsbestand der Europäischen Union im eigenen Land durchsetzen will. Jetzt, da wir, uns langsam vorantastend, wieder verhandeln, erneut ein Zeitziel zu fixieren, halte ich für verfrüht.
Eine Frage an den Ex-Buchhändler Martin Schulz. Wahrscheinlich kommen Sie ja kaum noch zur Lektüre?
Doch, ich lese jeden Tag.
Und Ihr Lektüretipp im Weihnachtsgeschäft?
Menschen, die sich für die Flüchtlingskrise interessieren und für Schicksale, die damit zusammenhängen, möchte ich auf einen Klassiker verweisen, den ich selbst in der Sommerpause nach über 30 Jahren noch einmal gelesen habe: John Steinbecks „Früchte des Zorns“, ein fantastisches Buch, das einem auch die Augen öffnet für das, was aktuell in Europa geschieht. Auch Helmut Schmidts letztes, schmales Buch „Was ich noch sagen wollte“ möchte ich empfehlen und zuletzt Gregor Schöllgens Biografie über Ex-Kanzler Gerhard Schröder, wenn man die Geschichte eines faszinierenden Aufstiegs in unserem Land lesen will.
Wie viele Geheimdienste haben jetzt beim Telefoninterview eigentlich mitgehört?
Meine Definition von Geheimdiensten ist ja diese: Zunächst einmal sind sie geheim, und danach eventuell auch noch Dienste. Aber immerhin hat die Abteilung Horch nun ein paar Lesetipps von mir erhalten.