Martin Schulz: Der Gerechtigkeitskämpfer

Der SPD-Herausforderer gibt sich als einfacher Mann, der immer ein offenes Ohr für die Sorgen der Bürger hat. Doch gegen Merkel kommt er nicht an.
von  Bernhard Junginger
Mai 2017: Martin Schulz (M.) fährt mit dem Zug von Kiel nach Lübeck zu einer SPD-Wahlkampfveranstaltung. Heute ist klar: Dem Schulz-Zug ist das Feuer ausgegangen.
Mai 2017: Martin Schulz (M.) fährt mit dem Zug von Kiel nach Lübeck zu einer SPD-Wahlkampfveranstaltung. Heute ist klar: Dem Schulz-Zug ist das Feuer ausgegangen. © Kay Nietfeld/dpa

Der SPD-Herausforderer gibt sich als einfacher Mann, der immer ein offenes Ohr für die Sorgen der Bürger hat. Doch gegen Merkel kommt er nicht an

Berlin - "Du kennst mich viel zu wenig ..." Die Wahlkampf-Hymne von Martin Schulz beginnt ausgerechnet mit dieser Feststellung. Händeschüttelnd bahnt sich der bärtige SPD-Kanzlerkandidat seinen Weg durch die Menschenmenge auf dem mittelalterlichen Marktplatz von Marburg. Wie beim Marsch eines Boxers zum Ring dröhnt dazu ein Lied. "Wie sehr wir leuchten", heißt das Stück des Pop-Duos Gloria. Das hat gut gepasst, als sie es beim SPD-Parteitag im März spielten. Bei dem Schulz mit sagenhaften 100 Prozent zum Vorsitzenden gewählt, als Kanzlerkandidat frenetisch gefeiert wurde.

Nichts hat der SPD-Chef seither unversucht gelassen, damit ihn die Deutschen besser kennenlernen. Martin Schulz hat in dieser Beziehung einen riesigen Rückstand auf Bundeskanzlerin Angela Merkel aufzuholen, als er antritt. Denn der Satz "Sie kennen mich" ist das Erfolgsrezept der Bundeskanzlerin.

Ein hochrangiger SPD-Stratege glaubt, dass die Zeit seit der Nominierung viel zu kurz war, um die nötige Vertrautheit zwischen Schulz und den Deutschen herzustellen. Jetzt, so kurz vor der Wahl, ist der SPD-Chef immer noch dabei, sich vorzustellen. Und versucht, Nähe zu schaffen.

Im rheinischen Singsang diese Woche erzählt er von der armen alten Frau, die 120 Euro Wohngeld bekommen würde, wenn ihre Rente nicht um lächerliche fünf Euro zu hoch wäre. Da ist der Student, der mehr Zeit mit der Wohnungssuche verbringt, als mit dem Studieren. Schulz berichtet von den Handwerkern, die er gerade im Haus hat, die alle Dieselautos fahren und jetzt Fahrverbote und Wertverlust fürchten. Vom Patienten, der schon viel zu lang im Wartezimmer sitzt. Und sich ärgert, weil ein anderer sofort drankommt, nur weil er privat versichert ist.

Kleine Geschichten von "kleinen Leuten", er baut sie immer wieder ein, sie sorgen für Kopfkino, sollen zeigen, wie ungerecht es in Deutschland zugeht. Schulz' Vorstellungen einer modernen sozialdemokratischen Politik bekommen so ein Gesicht - seines, mit Bart und Brille.

Schulz gibt den hemdsärmeligen Macher, der ganz entschieden vorgehen würde gegen Wohnungsnot, Zweiklassenmedizin oder schummelnde Autokonzerne. Das kommt gut an in der traditionsreichen hessischen Studentenstadt.

Doch selbst in der Wolle gefärbte Sozialdemokraten räumen ein, dass ihnen Schulz noch gegen Ende des vergangenen Jahres kaum ein Begriff war. Ein langjähriger SPD-Kommunalpolitiker sagt: "Das war einfach dieser Europapolitiker mit dem Bart. Was das für ein Mensch ist, wofür der steht, da hatte ich keine Ahnung". Warum der weitgehend Unbekannte dann nach seiner Nominierung zum Kanzlerkandidaten einen heute fast bizarr anmutenden Sturm der Begeisterung auslöste, erklärt sich der Mittsiebziger mit Schiebermütze so: "Die Genossen waren einfach froh, dass nicht der Gabriel antritt."

Die Lorbeeren der SPD-Minister erntet die Kanzlerin

Als Schulz Ende Januar vom Parteivorstand zum Kanzlerkandidaten gekürt wird, steckt die SPD in einer existenzbedrohenden Krise. Zwar kann sie in der Großen Koalition mit der Union durchaus Erfolge vorweisen: Mindestlohn, Rente mit 63. Doch die Lorbeeren trägt Bundeskanzlerin Angela Merkel davon. Der Fluch des Juniorpartners, der am Ende in der Wählergunst meist verliert, trifft die SPD mit aller Härte. Und alle Entscheidungen, für die Bundeskanzlerin Angela Merkel kritisiert wird, etwa in der Flüchtlingskrise, hat die SPD mitgetragen.

Sigmar Gabriel, der Vorsitzende, von dem alle die Kanzlerkandidatur erwarten, ist selbst in den eigenen Reihen so unbeliebt, dass keiner ihm auch nur den Hauch einer Chance gegen Merkel gibt. Doch dann trifft er die Entscheidung, die in der SPD damals als genialer Schachzug gefeiert und heute hinter vorgehaltener Hand immer öfter als ein Sich-aus-der-Verantwortung-Stehlen kritisiert wird. Gabriel verzichtet auf die Kandidatur und präsentiert Martin Schulz. Den Mann, der von außen kommt, Teil der SPD ist, aber eben nicht Teil der Großen Koalition.

In welchem Maß die SPD anfangs ihren neuen Vorsitzenden feiert, sagen Schulz-Vertraute, ist ihm selbst unheimlich. Wo immer er auftritt, jubeln begeisterte Genossen, von der "Lichtgestalt", gar vom "Messias" ist die Rede. Ganz offen träumt die SPD im Frühjahr davon, im "Schulz-Zug" direkt ins Kanzleramt zu fahren.

Zur Euphorie trägt bei, dass der Hoffnungsträger so ganz anders erscheint, als die meisten Spitzenpolitiker. Sein Lebenslauf ist ungewöhnlich, weist Brüche und Niederlagen auf. Der Sohn eines Polizeibeamten wächst in Würselen auf, einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen. Das katholische Gymnasium verlässt er ohne Abitur, weil er in Mathe schwächelt. Wie viele Jugendliche will er Fußballprofi werden. Das große Ziel scheint in greifbarer Nähe, als er als Mannschaftskapitän von Rhenania Würselen westdeutscher Vize-Jugendmeister wird. Doch ein kaputtes Knie macht ihn zum Sport-Invaliden. Und wirft ihn völlig aus der Spur. Mit 24 Jahren ist Schulz Alkoholiker, schafft es aber, die Sucht zu besiegen. Er wird Buchhändler.

Seine Mutter hatte den örtlichen CDU-Verband gegründet - es ist also wohl auch Rebellion gegen das Elternhaus, die dazu führt, dass Martin Schulz wie seine vier Geschwister bei der SPD landet. Er bewundert Willy Brandt, ist bewegt von dessen Kniefall in Warschau.

Im Hinterzimmer seiner Buchhandlung heckt er mit den Freunden von den Jusos Strategien aus. Und wird mit erst 31 Jahren Bürgermeister von Würselen. Gut 37.000 Einwohner hat seine Stadt, die bei Aachen liegt, nahe der holländischen und belgischen Grenze. Von dort aus kann er bequem nach Brüssel pendeln, seine Frau Inge und die beiden Kinder, heute längst erwachsen, können ihn oft sehen, als er 1994, mit 38 Jahren ins Europaparlament gewählt wird.

Schulz betont immer wieder seine einfache Herkunft

Mit Leidenschaft, Ehrgeiz und mitreißenden Reden schafft er den Aufstieg zum Vorsitzenden der Sozialistischen Fraktion und 2012 sogar zum Präsidenten des Europaparlaments. Schulz gilt als Vertreter des rechten Flügels der SPD. Vor den Konservativen im Parlament hat er wenig Berührungsängste. Zu Jean-Claude Juncker, dem Präsidenten der Europäischen Kommission, hat Schulz einen guten Draht - ebenso wie zur deutschen Kanzlerin. So glauben viele, dass er mit Attacken auf Bundeskanzlerin Angela Merkel geizt, etwa im zahmen Fernsehduell, weil er sich jetzt schon als Koalitionspartner in Position bringen will.

Im Wahlkampf spielt Schulz seine lange Erfahrung auf höchster europapolitischer Ebene eher herunter. Stattdessen betont er seine einfache Herkunft, beschwört geradezu seine Bodenständigkeit. Auch in Marburg erfahren die Zuhörer, dass seine Brille ein Kassengestell hat und seine Anzüge von der Stange sind.

Dass die Euphorie der verrückten Anfangstage, als die SPD zeitweise auf Augenhöhe mit der Union schien, verpufft ist - klar, das habe mit den drei Niederlagen der SPD bei Landtagswahlen zu tun, heißt es aus dem Willy-Brandt-Haus. Für die könne Schulz ja wenig, habe aber als Vorsitzender eben doch den Kopf hinhalten müssen. Gerade die Wahlschlappe in seiner nordrhein-westfälischen Heimat habe ihn sehr geschmerzt.

Die Deutschen kennen seither vor allem Schulz, den Verlierer. Der einer enteilten Gegnerin hinterher hechelt. Im Wochentakt seine Vorschläge präsentiert, wie er Deutschland gerechter machen will. Damit aber kaum durchdringt - vielleicht, weil das Land so schlecht nicht dasteht.

Als in Marburg der Schlussapplaus verebbt, hat sich der SPD-Senior mit der Schiebermütze, sein Bild von Martin Schulz gemacht. "Der könnte schon Kanzler", sagt er. "Aber die Merkel kennen die Leute halt schon seit zwölf Jahren."

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