Marcel Reif mit bewegendem Appell: "Mein Vater würde sich im Grab umdrehen"

Seine Bundestagsrede über seinen jüdischen Vater brachte die Außenministerin Annalena Baerbock vor genau einem Jahr zum Weinen. Doch Reporter-Legende Marcel Reif will mehr, sagt er im Gespräch mit der AZ.
von  Andreas Haslauer
Der Sportmoderator Marcel Reif spricht bei der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Seine Rede "Sei ein Mensch" von 2024 ist auch ein Jahr später unvergessen.
Der Sportmoderator Marcel Reif spricht bei der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Seine Rede "Sei ein Mensch" von 2024 ist auch ein Jahr später unvergessen. © Michael Kappeler/dpa

München - Die Welt stand still. Wenn auch nur für ein paar Sekunden. Marcel Reif, die Reporter-Legende, hatte gerade seine Rede anlässlich der Befreiung der Überlebenden des KZ Auschwitz am 27. Januar 1945 gehalten. Die zwölf Minuten gingen unter die Haut, berührten, bewegten.

Außenministerin Annalena Baerbock weinte, Bundeskanzler Olaf Scholz klopfte ihm auf die Schulter. "In diesem Moment brachte ich kein Wort heraus. Dabei habe ich nur das wiedergegeben, was mein Vater mir auf den Weg gegeben hat. Mehr war es ja nicht." Er wollte sich nie wichtig machen.

Rede von Marcel Reif im Bundestag bleibt bis heute in Erinnerung

Die Rede wurde millionenfach im Netz geklickt, Zeitungen schrieben über diesen bewegenden Moment. Seither ist sein Satz "Sei ein Mensch!" ein Synonym für Menschlichkeit. Über diese Strahlkraft, die der Satz seines Vaters hat, darüber freut er sich von ganzem Herzen.

Wie wichtig diese Rede war, zeigte vor Wochen der Aktionstag gegen "antisemitische Straftaten" bei dem die Polizei etliche Razzien in Deutschland vornahm. Ein Beschuldigter schrieb im Netz, dass Homosexuelle "ab nach Auschwitz" sollen. Ein anderer postete ein Bild von Anne Frank, die als Symbolfigur gegen den Völkermord in der Nazi-Zeit steht, neben einer Pizzaschachtel. Der Mann schrieb: "Die Ofenfrische."

"Wenn jemand gegen das Gesetz verstößt, muss er damit rechnen bestraft zu werden"

Reif kann und will das nicht mehr tolerieren, akzeptieren. "Wenn jemand gegen das Gesetz verstößt, muss er damit rechnen, bestraft zu werden. Im Straßenverkehr ist es ja genauso. Wenn Sie über eine rote Ampel brettern, dann macht es Tatütata. Und beim Aktionstag gegen antisemitische Straftaten geht es nun den Menschen an den Kragen, die andere diffamieren."

Die Signalwirkung, die der Staat damit ausdrücke, sei wichtig. Ganz nach dem Motto: "Schaut her, wir lassen das Euch nicht mehr durchgehen!" Schließlich hätten wir alle in Deutschland schon einmal erfahren müssen, wohin völkische Ideologien führen. Zu Millionen Toten. Die anderen, die auch mal hetzen wollen, würden spätestens nun wissen: "Mist, der Staat greift ganz schön durch."

Reporter-Legende hat Forderungen an Politik: Kein Mensch darf ausgegrenzt werden

Was Reif von Politikern erwartet? Sie müssten dafür sorgen, dass kein Mensch ausgegrenzt werden darf. Egal, ob Jude, Christ oder Muslim. Egal, ob schwarz, weiß oder schwarz-weiß-kariert. Soweit er wisse, sagt Reif, stehe das mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in der Verfassung.

Und dann erzählt er die Geschichte, wie er mit seinem Sohn seinen Vater besuchte. Reif echauffierte sich, dass sein Vater öfter mal gedanklich woanders war. Erst später klärte ihn seine Mutter auf, dass sein Vater mit Juden sowie einem Kind auf der Flucht gewesen sei. Das Kind mussten sie bei polnischen Bauern zurücklassen. Warum? Das weiß Marcel Reif nicht.

Das Einzige, was er weiß, war, dass sein Vater den Knirps nach der Befreiung abholen wollte. Die Bauern sagten jedoch, dass es ihnen leidtäte. Weil sie Angst davor hatten, dass die Deutschen dem Jungen etwas antun würden, warfen sie das Kind eine Klippe herunter. "Manchmal", sagte seine Mutter eines Tages, "wenn du mit deinem Sohn bei uns warst, hatte er diesen Jungen vor Augen."

"Kein Mensch hält sowas aus"

Wie kam es aber dann dazu, dass er über seinen Vater so gut Bescheid wusste, wenn er doch nie etwas über die Nazi-Zeit erzählt hat, nie darüber sprach. Das sei schon Jahrzehnte her, sagt Reif, da wollte er nur ein paar Fakten für sein neues Buch von seiner Mutter wissen. Also Dinge wie: Wann sind wir nach Israel gezogen? Wann nach Deutschland? Er brauchte nur ein paar Fakten von seiner Mutter, drei Tage wurden daraus.

Gelacht hätten sie in diesen Tagen viel, noch mehr geweint. Diese Gräueltaten, diese Geschichten des Grauens, waren für ihn kaum zu ertragen, ganz schrecklich. "Ich habe das als unerträglich empfunden und mich gefragt, wie ein Mensch so etwas aushalten kann. Erst in diesen Tagen habe ich den Schmerz, den mein Vater ertragen haben musste, verstanden. Wenn auch nur ansatzweise. Kein Mensch hält so etwas aus", sagt Reif.

Er selbst hat noch Verwandte in Tel Aviv, eine Cousine, die zusammen mit ihren drei Söhnen und der ständigen Ungewissheit lebt, dass jeden Tag das Telefon klingeln könnte, die Söhne zum Militär einberufen werden.

"Was ist das bitte für ein absoluter Irrsinn?"

"Mittlerweile macht sie sich jedoch mehr Sorgen um mich als ich um sie. Das müssen Sie sich vorstellen. Sie ist es, die mit der Angst lebt, dass wieder ein Raketenalarm schrillen kann. Sie sitzt im Bunker in Tel Aviv und fragt mich, ob ich hier in München, in Deutschland, noch verfolgt werde. Was ist das bitte für ein absoluter Irrsinn? Wenn mein Vater das noch mitbekommen würde, würde er sich im Grab umdrehen."

Erst neulich war er in der Schule seines Enkelkindes in der Nähe von Leverkusen. Dabei ging es um den Zweiten Weltkrieg. Ein Kind fragte ihn, ob es auch schuld daran sei, dass so viele Menschen im Zweiten Weltkrieg starben. "Natürlich nicht", hat er geantwortet.

"Keiner von euch ist für das, was mal geschehen ist, verantwortlich. Verantwortlich seid ihr nur dann, wenn irgendwann mal wieder was passiert", sagt er. "Und deswegen müssen wir alle gemeinsam, alles unternehmen, dass so etwas nie wieder vorkommt, nie wieder passiert."

Und was würde er seinem Vater noch sagen wollen? Auf Jiddisch sagte er es doch alles: "Sei a Mensch." Das war kein epischer Monolog, sondern drei Worte auf den Punkt. "Gibt es ein wertvolleres Vermächtnis als das?", fragt Reif.

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.