Lokführer, Einzelhändler oder Pflegekräfte: Wer streikt am meisten?

Berlin - Im Bahnbetrieb wird andauernd die Arbeit niedergelegt. Ganz ähnlich sieht es an den Flughäfen aus. Diesen Eindruck erwecken zumindest die derzeitigen Tarifkonflikte. Aber gehen diese Branchen wirklich so oft in den Arbeitskampf?
Die Anzahl der Streiks in allen Bereichen ist laut Thorsten Schulten, Leiter des Tarifarchivs des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI), nicht merklich gestiegen. Die Anzahl an Menschen, die mitmachen, jedoch schon. Eine hohe Inflationsrate, dadurch steigende Reallohnverluste und mehr Selbstbewusstsein der Arbeitnehmer aufgrund eines angespannten Arbeitsmarktes führten zu einer erhöhten Beteiligung.

In dieser Branche wird in Deutschland am meisten gestreikt
Um herauszufinden, welche der vielen Wirtschaftsbranchen tatsächlich am häufigsten und längsten in den letzten Jahren streikten, hat die AZ sich die Statistiken der Bundesagentur für Arbeit (BA) angesehen und das Ganze einmal zusammengerechnet: Die Sektoren sind natürlich unterschiedlich groß, weshalb die ausgefallenen Arbeitstage oder die beteiligten Arbeitnehmer jeweils für sich genommen noch keine fairen Vergleiche ermöglichen. Deshalb werden beide ins Verhältnis gesetzt: Wie viel Streiktage kommen auf einen Arbeitnehmer (Streikquote)? Und wie oft hat eine Branche eine hohe Streikquote in den letzten Jahren? Für das Jahr 2023 liegen noch keine Statistiken vor. Stattdessen werden die Jahre 2017 bis 2022 unter die Lupe genommen. Auch weist die BA darauf hin, dass die bei ihnen eingegangenen Meldungen nicht alle Streiks erfassen.
1. Der Einzelhandel: Die streikfreudigste Branche der letzten Jahre legte von 2017 bis 2022 jedes Jahr die Arbeit nieder. Dabei war sie stets in den Top fünf der höchsten Streikquoten im jeweiligen Jahr vertreten: Pro Arbeitnehmer gab es zwei bis drei Streiktage. Auch aktuell streikt der Einzelhandel – seit knapp 300 Tagen wird schon verhandelt und immer wieder auch die Arbeit niedergelegt. Zuletzt am Freitag, als Verdi speziell Edeka ins Visier nahm. Die Stärke des deutschen Tarifverhandlungsmodells sei eigentlich, dass es am Ende eben immer einen Kompromiss gebe, sagt Schulten. Beim Einzelhandel gestaltet sich das jedoch schwierig: "Die Gewerkschaften sind nicht in der Lage, flächendeckend Supermärkte lahmzulegen. Punktuell in einzelnen Häusern sind sie gut organisiert, da können sie dann auch symbolische Aktionen machen." Organisationsmacht ist laut Schulten der entscheidende Faktor für den Erfolg von Streiks: Also eine möglichst breite, engmaschige Masse für die eigene Sache mobilisieren zu können, die auch tatsächlichen ökonomischen Druck ausüben kann.
"Die GDL ist nicht radikaler als andere Gewerkschaften", sagt ein Streikexperte
2. Der Landverkehr und Transport in Rohrfernleitungen: Damit ist der Güter- und Personenverkehr auf Straßen und Schienen gemeint. Wenig überraschend schnappt sich der Bahnverkehr Platz zwei: Viermal war die Branche in den Top fünf der höchsten Streikquoten. 2017 kamen auf einen Arbeitnehmer sogar neun Streiktage. Erst Anfang des Jahres hat der Sechs-Tage-Streik der Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) die Pendler bundesweit bibbern lassen. Die Besonderheit in der Bahnbranche: Es konkurrieren mit GDL und der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) zwei Gewerkschaften miteinander. Aber: "Auch wenn Herr Weselsky sehr ruppig auftritt, ist die GDL nicht radikaler als andere Gewerkschaften", sagt dazu Tarifarchiv-Leiter Schulten der AZ. Dadurch, dass sie kleiner ist, muss sie sich öfter des Streikmittels bedienen, weil die reine Drohkulisse eines aufziehenden Arbeitskampfes meist nicht ausreiche.
3. Die Lagerei sowie Erbringung von sonstigen Dienstleistungen für den Verkehr: Hinter dieser sperrigen Bezeichnung verbergen sich Logistikunternehmen und der Betrieb von Verkehrsinfrastruktur wie etwa Flughäfen. In vier der fünf untersuchten Jahre tauchten sie oben in der Streikstatistik auf. Auf einen Arbeitnehmer kommen zwei bis drei Streiktage. Besonders die Flughafenstreiks wirken sich spürbar auf den Alltag aus.
Hohe Arbeitsbelastung des Gesundheitspersonals
4. Das Gesundheitswesen: 2018 kamen auf einen Arbeitnehmer fast vier Streiktage, 2022 waren es sogar mehr als fünf Streiktage – die höchste beziehungsweise zweithöchste Quote im jeweiligen Jahr. Das Bild von der Krankenpflegerin, die aus Sorge für ihre Patienten nicht in den Arbeitskampf geht, ist veraltet. "Da hat sich sehr viel verändert", bestätigt Schulten. Ein treibender Faktor dafür: die "unerträglichen" Verhältnisse an den Krankenhäusern. "Es geht dort nicht um mehr Lohn, sondern vor allem um Entlastung. Dass die Beschäftigten weniger arbeiten können", sagt der Gewerkschaftsforscher. Der Krankenhausreport 2023 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK untermauert die hohe Arbeitslast des Personals: Auf acht Ärzte und knapp 19 Pflegekräfte kommen in Deutschland 1000 Fälle. Der europäische Mittelwert liegt bei rund zwölf Ärzten und 27 Pflegekräften pro 1000 Fälle.
5. Die Herstellung von Nahrungs- und Futtermitteln: Hiermit sind all jene gemeint, die in Verarbeitung von Erzeugnissen der Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei zu Nahrungs- und Futtermitteln tätig sind. Die Branche hatte 2022 sogar die höchste (knapp elf Tage pro Arbeitnehmer) und 2021 die zweithöchste Streikquote (knapp 4,5 Tage pro Arbeitnehmer). "Ein Klassiker, wo man die Streiks nicht so mitbekommt, sind so kleine Bereiche, wie etwa die Milchwirtschaft in Bayern", sagt Tarifarchiv-Leiter Schulten. Der Grund, warum diese Branche oft übersehen wird: "Das sind so Sachen, die finden dann irgendwo statt. Die haben deshalb keine überregionale Aufmerksamkeit."
Ein Rückschluss auf die Macht der Gewerkschaften ist durch das Wissen, wer am meisten streikt, freilich nicht möglich. Schon die Androhung einer starken Gewerkschaft, es könnte einen Arbeitskampf geben, könne in den Tarifverhandlungen das Zünglein an der Waage sein, sagt Schulten. So etwa vergangenes Jahr bei der Deutschen Post: Als die Mehrheit der Beschäftigten sich in einer Urabstimmung für einen unbefristeten Streik ausgesprochen hatte, lenkte die Arbeitgeberseite schließlich ein. Wer am meisten streikt, erzielt also nicht unbedingt die besten Ergebnisse in den Tarifverhandlungen.