Linke stellt überraschende Kandidatin für Europawahl auf: "Rechtsruck zeichnet sich ab"

Hinter dem Bundesvorsitzenden der Linkspartei Martin Schirdewan steht die Ökologin und Aktivistin Carola Rackete (36) auf Platz zwei der Europawahlliste. 2019 rettete sie als Kapitänin der Sea-Watch 3 vor Italiens Küste Flüchtlinge in Seenot.
AZ: Frau Rackete, warum kandidieren Sie für Die Linke? Die Letzte Generation und die Grünen hätten möglicherweise auch zu Ihnen gepasst.
CAROLA RACKETE: Die Linke stellt soziale Gerechtigkeit in allen Fragen nach vorne. Das fehlt bei der Letzten Generation komplett. Die Grünen rücken immer weiter nach rechts – gerade in der Migrationsfrage. Als zwei Hauptprobleme in unserer Gesellschaft sehe ich die ökologische Krise und die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich. Das verbindet mich mit der Linken, es geht uns um Verteilungsgerechtigkeit.
Warum haben Sie den Entschluss getroffen, für das Europaparlament zu kandidieren?
RACKETE: Ich habe mich nie in einer Abgeordnetenrolle gesehen. Aber nach ersten Gesprächen habe ich einen Sinn darin entdeckt, weil sich der Rechtsruck seit langer Zeit abzeichnet. Es ist für mich besorgniserregend, dass die Ampel keine sozialgerechte Politik umsetzt. Aus diesem Grund ist Die Linke als Korrektiv so wichtig. Das gesamte linke Spektrum muss näher zusammenrücken. Nach dem Austritt von Sahra Wagenknecht sind auch sehr viele Menschen wieder in die Partei eingetreten – viereinhalb Tausend Leute, die richtig viel verändern können.
MARTIN SCHIRDEWAN: Wir erleben das gerade in München, dass immer mehr neue Genossinnen und Genossen in die Partei eintreten. Nachdem alte Konflikte endlich gelöst wurden, können wir die neue Klarheit und Geschlossenheit auch nach außen zeigen.
Carola Rackete und Martin Schirdewan: Wie sollen Menschen in Ostdeutschland überzeugt werden?
Das Wählermilieu in Ostdeutschland ist teilweise eher klimaskeptisch und weniger migrationsfreundlich. Denken Sie, dass Sie mit dieser Aufstellung – mit Frau Rackete auf Listenplatz Nummer zwei – Probleme bekommen?
SCHIRDEWAN: Nein. Das glaube ich nicht. Wir haben ein klares politisches Programm und da waren Menschenrechte schon immer ein Bestandteil. Das wissen auch die Menschen in Ostdeutschland. Wir stehen nicht nur für soziale Gerechtigkeit, sondern auch für eine Gesellschaft der Solidarität, in der Bevölkerungsgruppen nicht gegeneinander ausgespielt werden.
In der Vergangenheit wurden Unterschiede zwischen Ihnen beiden deutlich. Frau Rackete kann sich vorstellen, Defensivwaffen an die Ukraine zu liefern. Wie verpflichtet fühlen Sie sich der Partei?
RACKETE: Ich kenne natürlich den Parteibeschluss, aber es gibt innerhalb der Linken auch viel Diskussion. Das ist auch eine Meinung, die Bodo Ramelow vertreten hat. Ich kann mich insgesamt mit dem Parteiprogramm der Linken sehr gut identifizieren.
SCHIRDEWAN: Ich finde es wichtig, dass mit der Kandidatur von Carola auch Positionen der breiteren gesellschaftlichen Linken eine Rolle spielen. Auch, wenn ich persönlich eine andere Position vertrete. Das ist doch der Reiz darin, dass die gesellschaftliche Linke mehr ist und wir trotzdem auch die Kernfragen der sozialen und ökologischen Gerechtigkeit miteinander vertreten. Das finde ich gut. Wir ergänzen uns dabei.
Welche drei Themen sind in den kommenden fünf Jahren die wichtigsten in der EU?
RACKETE: Als Ökologin habe ich die Umgestaltung der gemeinsamen Agrarpolitik im Kopf. Die ist wichtig für den Klimaschutz, aber auch für die Artenvielfalt. Die Klimakrise wird dazu führen, dass wir mehr Dürren und Überschwemmungen erwarten müssen. Das wird sich auch auf die Lebensmittelpreise auswirken. Wir werden das System komplett umgestalten müssen. Außerdem beschäftigt mich die Frage von Mindestlohn und Tarifbindung. Wir müssen dafür sorgen, dass Menschen mehr in gewerkschaftliche und gute Arbeitsverträge hineinkommen. Wenn der Staat Aufträge verteilt, sollen die nur an Firmen gehen, die auch an einen Tarifvertrag gebunden sind.
SCHIRDEWAN: Für mich steht die Steuergerechtigkeit im Zentrum. Konzerngewinne müssen in Form einer Übergewinnsteuer richtig besteuert werden. Damit auch die Allgemeinheit davon etwas hat. Hohe Vermögen sollen in Form einer europäischen Krisenabgabe zur Verantwortung gezogen werden. Außerdem muss das Leben bezahlbar sein: bezahlbare Mieten und Energien. Der dritte Punkt ist, dass es ein europäisches Mindesteinkommen gibt – so ähnlich wie der europäische Mindestlohn. Sodass niemand in Kinder- oder Altersarmut leben muss.
Vor der Europawahl: Die Linke fordert, dass die EU die Wirtschaft ankurbeln soll
Wie wollen Sie die Wirtschaft denn ankurbeln?
SCHIRDEWAN: Wir fordern eine europäische Industriepolitik, die gezielt darauf setzt, mit Investitionen den anstehenden Umbau - die Verbindung von guter Arbeit, Löhnen und Nachhaltigkeit – zu bewerkstelligen. Leider fällt das Programm von Ursula von der Leyen und der EU-Kommission weit hinter das Programm der Vereinigten Staaten, den Inflation Reduction Act (US-Gesetz zur Förderung der inländischen Produktion, d. Red.), zurück. Es kann sich auch nicht mit der Subventionspolitik Chinas messen. Wir haben aktuell das Problem, dass die Europäische Union – damit auch die Industrie und Wirtschaft – in diesem Wettbewerb zurückzufallen droht, wenn nicht massiv gegengesteuert wird. Der anstehende Umbau kann nur gestaltet werden, wenn massive Investitionsprogramme aufgelegt werden. Wie die Vereinigten Staaten kann man große Konzerne stärker besteuern oder Steuerschlupflöcher für Superreiche schließen. Zudem fordern wir einen Rekommunalisierungsfonds, der darauf abzielt, dass die lokale Wirtschaft, die auch eng verbunden ist mit der öffentlichen Daseinsvorsorge, vor allem durch die öffentliche Hand mit gesteuert werden kann. Die Kommunen und Städte sollen die Möglichkeit haben, ihre eigene wirtschaftliche Aktivität unter sozialen und ökonomischen Gesichtspunkten mitzugestalten.
Die Erstwähler könnten laut aktuellen Umfragen ihr Kreuz am 9. Juni vor allem bei der AfD setzen. Wie wollen Sie diese jungen Menschen von sich überzeugen?
SCHIRDEWAN: Ich finde die Entwicklung besorgniserregend. Die AfD hat frühzeitig erkannt, dass politische Kommunikation in jüngeren Zielgruppen vor allem über Soziale Medien funktioniert. Der offenkundig korrupte Spitzenkandidat Maximilian Krah hat Millionen Aufrufe für abstoßendes und dummes Zeug – dafür, dass er über toxische Männlichkeit spricht und sich selbst feiert. Wir haben jetzt auch für unsere Wahlkampagne mehrere Leute im Social-Media-Bereich eingestellt. Wir sind auf Tiktok präsent und wir überlassen der AfD weder die Straße, Social Media, noch die Parlamente.
RACKETE: Junge Menschen haben viele Zukunftsängste. Die Erzählung, dass junge Menschen mehr Geld als ihre Eltern haben werden, funktioniert nicht mehr. Viele Leute sehen, dass sie abgehängt sind oder abgehängt werden können. Sie haben ökologische und finanzielle Sorgen um die Zukunft. Jedes fünfte Kind ist in Deutschland von Armut bedroht – das ist ein Skandal. Angst ist ein großer Motivator, um Menschen in die rechte Richtung zu schieben. Die Lösung kann nur in einer Klassenumverteilung münden.
In Bayern wird jetzt ein AfD-Abgeordneter durch den Verfassungsschutz beobachtet. Vorher hat man sich wohl aufgrund des Ramelow-Urteils - dessen Überwachung 2013 in Karlsruhe für verfassungswidrig erklärt wurde - nicht rangetraut. Wünschen Sie sich ein noch härteres Vorgehen der Behörden?
SCHIRDEWAN: Dass Bodo Ramelow ein Demokrat ist, steht außer Frage. Natürlich hat der Verfassungsschutz damals eine Niederlage aufgrund der politischen Beobachtung erlitten. Wir reden aber bei der AfD von Korruption und Spionage – das ist eine ganz andere Kategorie. Wenn Sicherheitsbehörden darauf aufmerksam werden, müssen sie ihre Informationen mit den Strafverfolgungsbehörden austauschen, damit die Immunität aufgehoben und ermittelt werden kann. Dann entstehen keine solchen skurrilen Situationen mehr, dass Carola und ich mit so Typen wie Maximilian Krah auf einem Podium sitzen müssen, obwohl jeder weiß, dass der die Hand aufhält.
Der thüringische Verfassungsschutzpräsident hat gemahnt, Gewalt von links und rechts im Blick zu behalten.
SCHIRDEWAN: Unsere Wahlkämpfer werden angegriffen. Es gab vorgestern erst wieder einen Angriff in Speyer, wo ein Genosse mit einem Fahrrad beworfen wurde. Wir sind seit vielen Jahren solchen Attacken ausgesetzt. Aber dass man im Moment das Gefühl hat, dass SA-Schlägertrupps durch die Gegend ziehen und gezielt die Plakate und damit den demokratischen Wettbewerb zerstören, hat eine neue Qualität.
Sie haben angekündigt, nach der Wahl Aktivistin zu bleiben. Wo sehen Sie sich mehr – im bürokratischen Brüssel oder auf der Straße?
RACKETE: Egal, an welchem Arbeitsplatz man ist, wird man von Strukturen beeinflusst. Deshalb ist es wichtig, außerhalb des Parlaments unterwegs zu sein und sich anzuhören, was die Anliegen und Probleme der Menschen sind. Ich will nicht nur ab und zu aus dem Parlament rausgehen, sondern wirklich mit der Zivilgesellschaft verknüpft sein.