"Letzte Generation" will ins EU-Parlament einziehen: So stehen die Chancen

Die Klimaaktivisten der Letzten Generation wollen in der Politik Fuß fassen. Schon in wenigen Monaten sollen sie auf dem Wahlzettel stehen. Wie wahrscheinlich ist ihr Einzug ins EU-Parlament?
Alexander Spöri
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Aktivisten blockieren bei einer Aktion in der Münchner Innenstadt die Trappentreustaße. Künftig wollen sie den Verkehr nicht mehr behindern.
Aktivisten blockieren bei einer Aktion in der Münchner Innenstadt die Trappentreustaße. Künftig wollen sie den Verkehr nicht mehr behindern. © Sachelle Babbar/imago

München – Kleben war gestern: Die Klimaaktivisten der Letzten Generation wollen künftig auf Straßenblockaden verzichten und dafür selbst in der Politik mitmischen. Wie aus einem Video der Protestbewegung vom Mittwoch hervorgeht, will die Gruppierung am 9. Juni zur Europawahl antreten.

"Wir sind nicht vernünftig geworden und gehen jetzt den richtigen Weg. Nein, wir wollen den Widerstand ins Parlament bringen", sagt die Aktivistin und Sprecherin der Letzten Generation, Carla Hinrichs. Im Video zeigt sie sich enttäuscht von Abgeordneten, die ihr zufolge oft um den "heißen Brei" herumreden und teilweise falsche Versprechungen machen. "Die große Ehrlichkeit" sei im Parlament verloren gegangen.

Laut Hinrichs versagt das komplette System der Parteien durch aktuelle Krisen. Es sei nicht in der Lage, "uns zu retten, so lange Machtinteressen und Lobbys vor Menschlichkeit und Vernunft stehen", heißt es in einer schriftlichen Erklärung der Gruppierung. Darin stellen die Aktivisten klar, dass sie im Gegensatz zu manchen Politikern "nie nach personeller Macht" streben würden. Der Plan: "Die Stimme einer Bewegung zu sein."

Soziologe Vincent August hält Einzug der Letzten Generation ins Europaparlament für realistisch

Der Soziologe Vincent August von der Humboldt-Universität zu Berlin hält einen Einzug der Letzten Generation in das Europäische Parlament nicht für ausgeschlossen: "Dass sie es tatsächlich schaffen, ist nicht total abwegig, weil die Hürden so niedrig sind", sagt der Leiter der Forschungsgruppe "Ökologische Konflikte" der AZ. Das Besondere: Bei der Europawahl gibt es keine Prozenthürde.

Schon im Januar schloss August auf Grundlage seiner Analysen, dass die Klimaaktivisten ihre Protestform überdenken müssen, wenn sie breite Zustimmung aus der Bevölkerung erhalten wollen (AZ berichtete). Man hat zwar laut August versucht, auf große Massenproteste umzustellen, "die waren aber vorhersehbar alle nicht besonders erfolgreich", so der Experte. Jetzt die Klebeaktionen hinter sich zu lassen und sich aktiv ins Parlament einzubringen, habe eine ähnliche "Stoßrichtung".

Keine Klebeaktionen mehr geplant: Klimaaktivisten könnten neue Unterstützer aktivieren

Neu ist das Vorgehen allerdings nicht. Bereits infolge von Fridays for Future hatten mehrere Sympathisanten die Klimaliste, eine Kleinstpartei, gegründet. "Das ist ein typischer Schachzug, wenn man stärker auf Institutionalisierung setzen will." Wie typisch das ist, kann man laut August bei zahlreichen anderen Protestbewegungen – unter anderem bei DieBasis – sehen, die kleinere Listen und Parteien ausgründen.

Auch die Grünen seien genauso so entstanden. Für die Letzte Generation sei es ein Versuch, neue Unterstützer zu aktivieren, die bisher der radikalen Protestform abgeneigt war. Vor allem aber könne man mit dem Schritt Aufmerksamkeit generieren. Der Hintergrund: Das Medienecho bei Klebeaktionen hat zuletzt stark abgenommen.

Am Samstag allerdings klebten sich noch einmal sechs Aktivisten in Österreich am Fernpass fest. Zwischen Biberwier im Bezirk Reutte und Nassereith im Bezirk Imst in Tirol hätten sich kilometerlange Staus gebildet, berichteten die "Salzburger Nachrichten".

4500 Unterschriften notwendig: So wollen die Klimaaktivisten zur Europawahl antreten

Im Gegensatz zur bereits gegründeten Klimaliste will die "Letzte Generation" streng genommen keine Partei ins Leben rufen, sondern eine Sonstige politische Vereinigung (SPV). Diese darf nur zur EU-Wahl antreten und nicht zur Bundestagswahl. Laut der Bundeswahlleiterin sind die Hürden, eine solche Vereinigung zu gründen, niedriger als bei einer Parteigründung.

Was die nächsten Schritte der Klimaschützer sind? Insgesamt müssen die Aktivisten 4500 Unterschriften sammeln, um zur Wahl zugelassen zu werden. Gleichzeitig bitten sie um Spenden, eine sogenannte "Anschubfinanzierung". Das Ziel: 50.000 Euro. Diese Marke knackte die Letzte Generation durch eine Spendenkampagne bereits am Donnerstag. Nur einen letzten Schritt braucht es also noch: Um sich einen Sitz in Straßburg und Brüssel zu sichern, benötigt die Vereinigung bei der Wahl etwa 200.000 Stimmen.

Letzte Chance für den Einzug? Mindestprozenthürde soll ab 2029 gelten

Wenn sie das schaffen, ist damit auch ein Finanzvolumen verbunden, mit dem man Mitarbeiter bezahlen könnte. "Und das, ohne dauerhaft auf der Straße zu sein", sagt August. Trotzdem sei die Entscheidung, bei der Wahl anzutreten, für die Letzte Generation ein großer Spagat. Einerseits könne man den Markenkern – also der "zivile Ungehorsam" – nicht vollständig über Bord werfen, andererseits müssten sich die Aktivisten grundlegend umorientieren, wenn sie tatsächlich breiteren Rückhalt gewinnen wollen. Gleichzeitig ist der Markenkern aber so stark gemacht worden, dass das schwierig werde.

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Selbst, wenn die Klimaaktivisten einmal im Parlament sitzen, bleibt abzuwarten, wie lange. Zur übernächsten Europawahl im Jahr 2029 soll bereits eine Hürde von mindestens zwei Prozent gelten. Das hatte der Deutsche Bundestag 2023 mit einer Zweidrittelmehrheit beschlossen. Durch diese neue Regelung werden viele Kleinstparteien – darunter ÖDP, Volt, und die Piratenpartei – zu kämpfen haben. Auch deren Zukunft im EU-Parlament ist dann ungewiss.

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4 Kommentare
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  • Xaverl Weissnix am 14.02.2024 00:02 Uhr / Bewertung:

    Um Gottes willen bewahre uns davor! Irgendwann wird man mehr oder weniger gezwungen, auszuwandern. Das hält doch keiner mehr aus hier,

  • blauerRealist am 13.02.2024 18:07 Uhr / Bewertung:

    Gott bewahren uns davor

  • F. Graf Denunziant am 13.02.2024 16:37 Uhr / Bewertung:

    Wie ein der letzten großen SPDler Franz Müntefering zur LG kommentierte. Wenn sie was erreichen wollen, treten sie in eine Partei ein oder gründen sie eine. Das nennt man Demokratie.

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