Leben mit dem Zölibat: „Das war kein Zustand für die Ewigkeit“

Michael Sell ist katholischer Pfarrer in Franken, als seine heimliche Freundin schwanger wird. Er gibt für die Familie seine Berufung auf – und kämpft für den Fall des Pflichtzölibats.
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Michael Sell mit seinem Sohn Leonhard (16 Monate). Jahrelang war er heimlich mit Leonhards Mutter zusammen, jetzt ist sie seine Frau.
privat Michael Sell mit seinem Sohn Leonhard (16 Monate). Jahrelang war er heimlich mit Leonhards Mutter zusammen, jetzt ist sie seine Frau.

Michael Sell ist katholischer Pfarrer in Franken, als seine heimliche Freundin schwanger wird. Er gibt für die Familie seine Berufung auf – und kämpft für den Fall des Pflichtzölibats.

Leonhard ist 16 Monate alt, er kann schon Papa sagen. Dass er auch weiß, zu wem er das sagen muss, ist nicht selbstverständlich. Denn sein Vater ist katholischer Priester. Für ihn und seine Mutter hat Michael Sell (38) nicht nur seinen Beruf aufgegeben, sondern seine Berufung.

Sell war Ministrant und arbeitete später in der katholischen Jugend. Irgendwann entschied er sich, Priester zu werden. „Ich hab’ den Zölibat nie wirklich verstanden. Aber es war eben mit dabei, man hat das in Kauf genommen.“ Größer als die Bedenken, ob er sein Leben lang alleine leben könnte, war die Begeisterung für den Beruf, war der Glaube. Im Priesterseminar wurde das Thema mit Witzen überspielt, hin und wieder ein Spruch wie „Siehst ein hübsches Mägdelein, schlag sie nieder, die Augenlider.“

Schon als Student hat er seine spätere Frau, eine Religionspädagogin kennengelernt. Erst allmählich wurde Liebe daraus, eine verbotene Liebe. „Ich selbst hatte nie das Gefühl, dass das falsch sein soll“, sagt Sell. Es folgte eine heimliche Fernbeziehung, lange Telefonate, Treffen nur am Wochenende.

Vater sein, aber nicht offiziell

Drei Jahre lang waren die beiden fest zusammen, Sell war damals schon Pfarrer im nordbayerischen Hammelburg. Seine Kundschaft, die Hammelburger Katholiken, wussten, dass die Frau, die jedes Wochenende beim Pfarrer ist, weder eine Köchin noch eine Schwester ist. „Meine Frau wurde als solche wahrgenommen und auch überall mit eingeladen“, erzählt er. „Die Menschen in der Gemeinde haben das akzeptiert.“

Er hätte so weiter machen können, jahrelang. Wie es viele Pfarrer in Deutschland tun. Zusammen sein und doch nicht ganz, Vater sein, aber nicht offiziell. „Uns war immer klar, dass das so kein Zustand für die Ewigkeit ist.“ Als der Kleine unterwegs war, war das für Sell der entscheidende Auslöser. „Mein Sohn hat das Recht, mit seinem Vater aufzuwachsen.“ Sell bereitete sein Outing beim Bischof vor, den Bau des neuen Pfarrheims wollte er aber noch über die Bühne bringen. In dieser Zeit kam ihm ein eifriges Gemeindemitglied zuvor und denunzierte den Pfarrer und seine schwangere Frau beim Bischof.

Sell wurde sofort suspendiert, aber er schwieg nicht. Er gab Interviews, er stand ganz offen zu seiner Liebe, er stellte sich mit dem Kinderwagen vor seine ehemalige Kirche. Und seine Gemeinde fing an, nach Reformen zu rufen. In Hammelburg entstand die Organisation „Kirche in Bewegung“, die bis heute aktiv ist. „Ich habe wahnsinnig viel Zuspruch und Zustimmung bekommen“, sagt Sell. „Die allermeisten Kirchgänger– und das sind ja keine Ausgetretenen, sondern gläubige Katholiken – haben damit kein Problem“, sagt Sell. Viel zu hoch häng die Kirche den Zölibat. „Er gehört nicht zu den Grundfesten dieser Kirche.“ Es würden ja auch Konvertierte, die Frau und Kinder haben, zum Priesteramt zugelassen. „Vermutlich hat die Kirche Angst, dass wenn sie in diesem Punkt nachgibt, gleich die nächsten Forderungen kommen: nach dem Frauenpriestertum, nach mehr Bedeutung der Laien“, vermutet der 38-Jährige.

Das erste Weihnachten als „Zivilist“ war befremdlich

Er hofft, dass seine Kirche irgendwann über die Ökumene mit den orthodoxen Christen den Weg weg vom Pflichtzölibat findet. Nur Bischöfe und Ordensleute leben bei den Orthodoxen zölibatär, ein einfacher Pfarrer darf heiraten. „Das wäre eine gute Lösung“, findet er. „Und ich bin überzeugt, dass die römisch-katholische Kirche sonst in die Regionalliga absteigt. Dabei wäre sie so wichtig.“

Michael Sells Neuanfang war nicht einfach. Er war beliebt, er war Seelsorger, hat mit Kindern gearbeitet, Sterbende begleitet, Trauende getröstet. Er wurde gebraucht in seiner Gemeinde. Nach seinem Rauswurf zog er zu seiner Frau nach Geltendorf, wo sie arbeitet.

Das erste Weihnachten als „Zivilist“ war besonders befremdlich. Ein gefeuerter Pfarrer – was kann der machen? „Das ist das Schlimmste: Man hat sich ja von Gott zum Priester berufen gefühlt – und dann kommt die Kirche und sagt: Nein, du bist nicht berufen.“

Sell hat Glück gehabt. Seit Januar hat er eine Stelle in der Jugendarbeit – beim Staat. „Ich bin froh, dass ich da meine Erfahrungen einbringen kann“ sagt er. Sein noch größeres Glück ist Leonhard, den er mal als „Urwunder“ bezeichnet hat. Sein „Sohnemann“, wie er ihn nennt, macht ihm jeden Tag klar, dass seine Entscheidung die richtige war. „Wir haben ein sehr schönes Leben.“

Tina Angerer

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