Last Exit Europe: Die Diskussionsrunde der Abendzeitung in den Kammerspielen
München - Europa ist streitbar - und selbst drei Pro-Europäer auf dem Podium sind sich nicht einig, wenn es um gemeinsame europäische Werte geht. Denn um dieses Thema ging es am Sonntagvormittag bei der Podiumsdiskussion "Last Exit Europe - Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit. Welche Werte vertritt Europa?" in den Kammerspielen.
Eine Reibungsfläche der Runde: Wie soll Europa mit der Türkei, aber auch mit Polen und Ungarn umgehen? Einigkeit herrscht darüber, dass die Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdogan nicht zu Europa gehört. Seyran Ates, in Istanbul geborene Menschenrechtlerin, sagt: "Es ist nicht geografisch oder historisch, sondern die aktuelle politische Lage gibt es nicht her, dass die Türkei zu Europa gehört." Denn die Türkei vertrete europäische Werte nicht.
Markus Söder: "Trennungslinien durch Europa"
Bayerns Finanzminister Markus Söder (CSU), dessen Partei zwar mit Viktor Orbán spricht, aber einen Abbruch der Beitrittsgespräche mit der Türkei fordert, sieht das Problem weiter gefasst: "Durch Europa verlaufen Trennungslinien. Zwischen Nord und Süd gibt es die Debatte, wer was zahlen muss, zwischen Ost und West beim Demokratieverständnis. Jetzt kommen noch separatistische Tendenzen hinzu." Aber man könne das Problem nicht lösen, indem man zu einem wie Orbán sage: "Ich habe recht und du nicht."
Grünen-Urgestein und Europapolitiker Daniel Cohn-Bendit findet, man müsse Ungarn und Polen gegenüber deutlicher werden: "Der Grundgedanke, auf dem die EU gegründet wurde, war ,Nie wieder Rassismus, nie wieder Antisemitismus.' Aber es gibt staatlichen, strukturellen Rassismus in der EU."
LAST EXIT EUROPE - Die AZ-Podiumsdiskussion in den Kammerspielen from Abendzeitung München on Vimeo.
Cohn-Bendit an Söder: "Nicht die bayerische Fahne schwenken"
Doch denken Deutschland und seine Nachbarn europäisch? Söder sieht seine Zeit als Europaminister (2007 bis 2008) augenzwinkernd als "eine Art Resozialisierungsmaßnahme" nach seiner Zeit als CSU-General.
Cohn-Bendit blickt nach Frankreich, wo der neue Präsident Emmanuel Macron Europa zu seinem zentralen Wahlkampfthema gemacht hat. Mit Erfolg. Cohn-Bendit: "Im Bundestagswahlkampf hat Europa dagegen nicht stattgefunden. Das war ein Fehler."
Weil Söder wenig Begeisterung über die von Cohn-Bendit aufgezählten Macron-Reformen zeigt, kontert Cohn-Bendit: "Sie sollten nicht nur die bayerische Fahne schwenken, sondern auch mal die europäische." Da lobt Söder mit Blick auf Macron, aber doch auch selbstbewusst und selbstbezogen: "Es ist positiv, wenn ein junger, frischer Kandidat das Heft in die Hand nimmt."
Mit Größe und Substanz gegen Amerika und China
Ates sieht die Gesprächskultur bedroht: "Sobald man über Werte spricht, ist man in der rechten Ecke." Einigkeit herrscht in der Gesprächsrunde nur darüber, dass die Politik es versäumt hat, die Idee der europäischen Identität zu vermitteln.
Warum ist es wichtig, an der europäischen Idee festzuhalten? Söder sieht Europa als Machtinstrument: "Europa muss Antworten auf die Globalisierung geben. Gegen Amerika und China kannst du nur mit einer Größe und Substanz auftreten." Auch Cohn-Bendit sieht Europa als Motor für wichtige Veränderungen: "Klimaziele können wir nicht regional erreichen, die Auseinandersetzung um Pestizide in der Landwirtschaft kann nicht ein Land führen."
Seyran Ates fragt noch einmal, ob die europäischen Regierungen alle hinter den Menschenrechten stehen und sieht auch die Bürger in der Pflicht - besonders verweist die Aktivistin auf ihre Initiative "Stop Extremism" (www.stopextremism.eu). Sie warnt: "Extremismus führt zu einem Rechtsruck."
Söder fasst versöhnlich zusammen, worin sich die Gruppe einig ist: "Wir müssen jene gewinnen, die nicht wie Zuschauer hier im Saal in der Früh für Europa aufstehen."