Last Exit Europe - Daniel Cohn-Bendit im Interview: "Hier sehe ich keinen Macron“

Daniel Cohn-Bendit diskutiert am Sonntag bei der Europa-Debatte der AZ in den Kammerspielen. Vorab erklärt der Publizist und grüne Politiker, warum es wichtig ist, dass Politiker Visionen haben.
Clemens Hagen |
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International geachtet: Daniel Cohn-Bendit, damals Co-Präsident der europäischen Grünen, nach einem Treffen mit dem damaligen französischen Präsidenten François Hollande 2012 im Elysée-Palast in Paris.
Ian Langsdon/dpa International geachtet: Daniel Cohn-Bendit, damals Co-Präsident der europäischen Grünen, nach einem Treffen mit dem damaligen französischen Präsidenten François Hollande 2012 im Elysée-Palast in Paris.

München - Daniel Cohn-Bendit gehörte in den 70ern zur Frankfurter Sponti-Szene. Zusammen mit Joschka Fischer war er einer der ersten Vertreter des "Realo-Flügels" der Grünen. Von 1994 bis 2014 saß er für seine Partei im Europäischen Parlament. Mit der AZ sprach er unter anderem über die Wichtigkeit von Visionen für Politiker.

AZ: Herr Cohn-Bendit, schließen wir die Augen und stellen uns für einen Moment vor, Sie seien Präsident eines vereinten Europas – was wären ihre ersten drei Amtshandlungen? Abgesehen davon, eine Flasche Champagner zu öffnen...
DANIEL COHN-BENDIT: Ich würde versuchen, das Programm, das der französische Präsident Emmanuel Macron formuliert hat, umzusetzen. Zum Beispiel würde ich ein Investitionsprogramm starten, um die Ungleichheiten in Europa abzubauen. Wichtig wären erneuerbare Energien, digitale Zukunft, einheitliche Unternehmensbesteuerung, Schutz vor Lohndumping aus China.

Eine umfangreiche Agenda!
Ich bin noch nicht fertig. Ich würde außerdem eine europäische Agentur für Flüchtlinge schaffen, die so ausgestattet wäre, dass sie Städten oder Regionen, die Flüchtlinge aufnehmen, finanziell helfen kann. Und ich würde ein europäisches Einwanderungsgesetz auf den Weg bringen.

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Die Realität müsste Sie als radikalen Pan-Europäer allerdings eher verzweifeln lassen. Sind Sie verzweifelt?
Nein. Wenn man allein die Entsenderichtlinie gegen Lohndumping betrachtet, die Macrons Werk ist, dann sieht doch, dass es geht – etwas guten Willen vorausgesetzt.

Die AfD in Deutschland bei 12,6 Prozent, Österreich bekommt einen Kanzler Kurz, Tschechien mit dem Nationalisten Babis an der Spitze, Brexit, Front National in Frankreich – die Liste ließe sich beinahe fortsetzen. Wie schwarz sehen Sie für Europa?
Klar, man muss sich mit denen auseinandersetzen, aber man wird sie auch überwinden, wenn man entsprechend handelt – und nicht jammert!

Für viele ist ein Europa ohne Großbritannien, ohne London, ohne Fish and Chips, ohne Rolling Stones nur schwer vorstellbar. Halten Sie einen Exit vom Brexit für möglich?
Ich glaube, die Briten merken langsam, was sie sich mit dem Brexit zumuten. Viele kriegen da kalte Füße. Wenn sich Europa in den nächsten zwei Jahren in die richtige Richtung entwickelt, halte ich es nicht für unmöglich, dass das englische Parlament sagt, hoppla, stopp, wir müssen neu überlegen. Vielleicht kommt dann ein neues Referendum.

"Dieses ewige Kleinklein bringt uns nicht weiter"

Die Verantwortung, die Frankreich und Deutschland zum Wohle Europas schultern müssen, ist gewaltig...
Halt! Das passiert auch und vor allem zum Wohle Frankreichs und Deutschlands. Im Ernst: Alles hängt von der Politikfähigkeit Macrons und Merkels ab. Ich würde nicht sagen: Rien ne va plus, les jeux sont faits. Aber wenn Jamaika wieder den deutschen Wirtschaftsnationalismus in den Vordergrund stellt, wird es schwierig.

Sie haben sehr dezidierte Vorstellungen, was die Zukunft des Kontinents betrifft – selbst was eine gemeinsame Verteidigung bzw. Armee angeht. Ungewöhnlich für einen eingefleischten Pazifisten...
So ein Pazifist bin ich nicht. Wir haben derzeit über zwei Millionen Soldaten in Europa, ein Aberwitz, die können gar nichts. Es geht ja nicht um die Sicherung der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich, es geht um die Herausforderungen einer globalisierten Welt, um Terrorismus zum Beispiel. Und da genügt eine global einsetzbare europäische Truppe von 300.000 bis 400.000 Mann.

Ein großes Problem ist die fehlende Begeisterung vieler Menschen für Europa.
Das ändert sich gerade. Und zwar seit dem Brexit. Das zeigen Umfragen. Selbst populistische Parteien, die aus Europa rauswollen, kriegen von den Wählern eins auf die Mütze.

Die Politik zeigt sich oft wenig kreativ, wenn es um Rezepte für gute Europa-Werbung geht. Hätten Sie Ideen?
Die Politik macht keine Werbung, aber sie muss Visionen vermitteln und diese umsetzen wollen – das genau ist die Stärke von Emmanuel Macron. Dieses ewige Kleinklein bringt uns nicht weiter.

Sehen Sie in Deutschland einen Politiker oder eine Politikerin mit dem Format eines Macron?
Da muss ich leider passen.

Wenn wir uns einen Moment der Innenpolitik zuwenden: Was raten Sie Ihren grünen Parteifreunden für die Koalitionsverhandlungen? Wo liegen Chancen und Gefahren für die Partei – gehen wir davon aus, Deutschland bekommt die Jamaika-Regierung?
Ich rate ihnen, klug und entschieden zu verhandeln. Nicht immer den kleinsten gemeinsamen Nenner suchen, sondern herausloten, wo ein gemeinsames Jamaika-Projekt entstehen kann. Konkret: Man muss bereit sein, aus den eigenen Überzeugungen heraus Grenzen zu überwinden und Schnittstellen zu finden. Ein Soziologe hat das mal so formuliert: Es ist das Zeitalter der experimentellen Demokratie.

Glauben Sie, uns steht eine erfolgreiche vierte Amtszeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel bevor? Oder hat sie sich verschlissen?
Wenn sie so beweglich ist, wie sie es vorgibt zu sein, dann kann sie mit glorreich wehenden Dreadlocks aus diesem Jamaika-Projekt hervorgehen.


29. Oktober, 11 Uhr. Münchner Kammerspiele
Theaterkasse
Maximilianstraße 28
80539 München
Telefon: 089 / 233 966 00

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