Kurz vor Europawahl spricht Manfred Weber (CSU) in der AZ: "Ich bin fassungslos"
München – Der EVP-Fraktionsvorsitzende Manfred Weber (CSU) hat sich rund zwei Wochen vor der Europawahl mit der AZ getroffen. Im Interview äußert er sich zum befürchteten Vormarsch der Rechten, dem Verbrenner-Aus und zu seinem eigenen Auto.
AZ: Herr Weber, in knapp zwei Wochen ist Europawahl. Aktuell hat man das Gefühl, dass das viele Menschen gar nicht interessiert. Warum ist das so?
MANFRED WEBER: Es ist ein ruhiger und nachdenklicher Wahlkampf. Es ist nicht mehr wie im Landtagswahlkampf, der durch scharfe Debatten aufgeheizt war. Die Menschen haben große Sorgen. Wir Politiker müssen jetzt trommeln und um Unterstützung bitten. Aktuell sind die Zahlen ermutigend: Die Nachfrage nach der Briefwahl ist in Bayern sehr hoch.
Eine repräsentative Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung kommt zum Ergebnis, dass 40 Prozent der jungen Menschen die Europawahl für zu komplex halten. Wie wollen Sie die Politik aus Brüssel verständlicher machen?
Europa ist ja auch verdammt komplex. Es sind 27 Länder und ich habe eine Fraktion mit 180 Abgeordneten, in der 50 verschiedene Parteien sind. Aber Europa ist die einzige Chance, um die Probleme unserer Zeit wirklich zu lösen. Deswegen: Ran an die Themen! Wir brauchen doch im Wahlkampf keinen VHS-Kurs, wie Europa funktioniert.
Ein Blick auf den Wahlzettel verrät, dass am 9. Juni unzählige Parteien und Gruppierungen antreten – darunter die Letzte Generation und die Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung. Wie dringend muss eine Prozenthürde auch im EU-Parlament kommen?
Die Parteien stellen auf und bewerben sich. Das ist zunächst einmal das Zeichen einer lebendigen Demokratie. Trotzdem erleben wir in Europa gerade eine Fragmentierung. Es wird immer schwieriger, in einem Parlament mit über 700 Abgeordneten eine Mehrheit zu bilden. Deshalb brauchen wir bei der nächsten Europawahl eine Mindestprozenthürde von drei Prozent, die wir auch so in einem Wahlgesetz beschlossen haben.
Weber blickt auf EU-Wahl 2019 zurück: "Damals ist großer Schaden an der Demokratie entstanden"
Bei der letzten Abstimmung sind Sie als künftiger Kommissionspräsident in den Wahlkampf gezogen. Dann ging das Amt an Ursula von der Leyen. Schmerzt Sie das noch?
Für mich ist das abgeschlossen. Damals ist großer Schaden an der europäischen Demokratie entstanden – damit hadern viele Leute. Als Betroffener kann ich das sehr gut nachvollziehen. Tatsache ist, dass mich Sozialdemokraten und Liberale im Parlament als Wahlgewinner nicht unterstützt haben. Nach dieser Niederlage bin ich wieder aufgestanden. Darauf kommt es an.

Würden Sie nochmal für den Posten kandidieren, wenn nach Ihnen gerufen wird?
Wir haben mit einem klaren Votum beim EVP-Kongress in Bukarest unsere Kandidatin Ursula von der Leyen nominiert. Außerdem haben wir Roberta Metsola als Parlamentspräsidentin vorgeschlagen. Sie ist aus Malta, dem kleinsten Land Europas, und von der Leyen aus Deutschland, dem größten Land. Dadurch zeigen wir, dass es nicht um Groß und Klein geht, sondern dass wir als europäische Partei denken. Dass jetzt zwei Frauen an der Spitze stehen, ist ein starkes Signal. Wir praktizieren die Gleichberechtigung von Mann und Frau.
Es heißt, Ursula von der Leyen habe Markus Söder zu seiner Reise zur italienischen Staatschefin Giorgia Meloni auch deshalb geraten, weil sie auf ihre Stimme im Rat und die Stimmen ihrer Fraktion im Parlament angewiesen ist. Ist das ein Spiel mit dem Feuer, wenn man bedenkt, dass sie für eine Wiederwahl auch Sozialdemokraten und Liberale benötigt?
Es stellt sich die Grundsatzfrage, wer in Europa Probleme lösen will. Die Rechtsradikalen wollen das Europäische Parlament stürmen – Le Pen, die FPÖ und die AfD. Sie haben kein Interesse an Sachpolitik. Vor wenigen Wochen haben wir nach einer acht Jahre langen Debatte mit dem Migrationspakt endlich ein wesentliches Gesetz beschlossen. Ich erlebe, dass die Grünen die Zustimmung verweigern und dass Giorgia Meloni zustimmt. Wir werden mit denen arbeiten, die sich konstruktiv an der Lösung von Problemen beteiligen.
Nähe zu rechten Politikern? "Giorgia Meloni muss ich nicht verteidigen"
Aber macht man dadurch die Rechte nicht salonfähig?
Wenn Björn Höcke von der AfD öffentlich sagt, dass dieses Europa sterben muss, stehe ich in der ersten Reihe und sage, dass ich mir von den Neonazis unser Europa nicht kaputtmachen lasse. Giorgia Meloni muss ich nicht verteidigen. Sie ist die Regierungschefin Italiens. Ich werbe dort für die Forza Italia, die proeuropäisch ausgerichtet ist. Insgesamt erlebe ich in den letzten zwei Jahren aber eine konstruktive italienische Regierung, die Kompromisse mitträgt. Genauso wie der französische Präsident Emmanuel Macron, Bundeskanzler Olaf Scholz, Polens Regierungschef Donald Tusk oder ich.
Sie fordern auf X, dass der Rechtsextremist Maximilian Krah als AfD-Spitzenkandidat abtreten soll. Laut geltendem Wahlrecht ist das aber nicht mehr möglich. Was soll Krah jetzt machen?
Die Radikalen in Europa haben beschlossen, dass sie mit den Radikalsten, der AfD, nichts mehr zu tun haben wollen. Ich frage mich, was noch alles passieren muss. Jetzt muss Krah klarstellen, dass er sein Mandat nach der Wahl nicht annimmt. Dass er aus dem AfD-Parteivorstand zurücktritt, aber trotzdem wieder ins Parlament einzieht, grenzt an Wählerverhöhnung.
Sind Sie ein bisschen schadenfroh darüber, wie sich die AfD gerade selbst zerlegt?
Ich bin fassungslos. Wir als Parteien der Mitte müssen uns fragen, ob wir die richtigen Antworten auf die Sorgen der Menschen geben. Bei der Migration ist mir wichtig, dass wir Ergebnisse liefern. Das zweite große Problem ist die Sorge um die Arbeitsplätze. Was sagen wir den Thyssenkrupp-Mitarbeitern, die angesichts der chinesischen Stahlimporte jetzt Angst um ihre Jobs haben? Das sind Themen, auf welche die Politik Antwort geben muss.
Große Veränderungen in der Automobilbranche: Steht das Aus des Verbrenners wirklich bevor?
Nur acht Prozent der Erstwähler denken, dass die Union die besten Antworten auf Probleme in der EU liefert. Die AfD schneidet fast doppelt so gut ab. Haben Sie der Partei das Schlachtfeld im Internet überlassen?
Dass die AfD mit ihrer aggressiven und zuspitzenden Art auf Social Media besser läuft, ist systembedingt. Das liegt an den Algorithmen. Trotzdem müssen wir den Wettbewerb aufnehmen. Da sind wir als CSU auch gut unterwegs. Wir werden die jungen Menschen aber nicht durch Zuspitzungen, sondern mit Konzepten überzeugen.
CDU und CSU haben eine Kampagne gegen das Verbrenner-Aus gestartet, das integraler Bestandteil des Green Deal ist, um die EU bis 2050 klimaneutral zu machen. Ist das nicht blanker Wahlkampf-Populismus – oder ist es etwa erstrebenswert, sich weiterhin energietechnisch abhängig von Schurkenstaaten zu machen, obwohl man Strom selbst produzieren könnte?
Es ist absolut notwendig, dass wir 2050 klimaneutral werden, und ich bin stolz darauf, dass wir das in Europa beschlossen haben. Klar ist auch: Die Zukunft der Mobilität ist elektrisch. Ich fahre privat selbst einen Stromer und finde ihn super. Ich stimme außerdem zu, dass 2035 kein Auto mehr auf den Markt gebracht werden soll, das CO2 emittiert. Der Weg dorthin liegt allerdings im Zuständigkeitsbereich der Ingenieure und Konzerne. Schon heute können Sie in München mit HVO100 einen Treibstoff tanken, der zu 100 Prozent klimaneutral ist, hergestellt etwa aus Altfetten und Altölen. Vielleicht ist das nur eine Nische, aber der Wettbewerb und nicht der Staat soll am Ende entscheiden, welche Technologie sich durchsetzt. Deshalb werden wir dieses Verbot zurücknehmen, wenn wir die Mehrheiten dazu haben, und den Verbrenner nach 2035 weiter zulassen.
In Deutschland gibt es rund 46 Millionen Verbrenner-Autos. Halten Sie es wirklich für realistisch, die in naher Zukunft alle mit E-Fuels oder Altöl zu betanken?
Nochmal: Die Zukunft ist elektrisch, diesen Umstieg müssen wir schaffen und die Konzerne sind gut unterwegs. Gerade Audi und BMW haben tolle Produkte und werden wettbewerbsfähig sein. Hinzukommt: Es gibt mittlerweile sehr günstige Techniken, um der Atmosphäre CO2 zu entziehen. Denkbar wäre also ein Konzept, bei dem jemand weiterhin seinen Verbrenner nutzt und im Gegenzug dafür bezahlt, dass etwa CO2 verpresst wird oder Moore entwickelt werden – ein Gegengeschäft.
Schutzzölle und strengere Regeln zum Schutz des Marktes in Europa? "Es braucht Welthandel, auch mit den Chinesen"
Bleiben die wirtschaftlichen Angriffe der Chinesen auf den europäischen Markt. Die Amerikaner verhängen mittlerweile hohe Schutzzölle, auf E-Autos zum Beispiel 100 Prozent – wie wird sich die EU entscheiden?
Es braucht Welthandel, auch mit den Chinesen. Aber wir dürfen nicht so naiv sein wie damals bei der Photovoltaik: Wir haben die Technik in Deutschland entwickelt, in Europa produziert, unterstützt mit staatlichen Geldern – und mittlerweile stammt das, was bei uns ankommt, zu fast 100 Prozent aus China. Die Volksrepublik ist nicht in allen Segmenten fair und deshalb muss Europa in der Lage sein, sich zu schützen und einen fairen Handel zu erzwingen. Dafür müssen alle Möglichkeiten auf dem Tisch liegen. Das Verfahren um die Elektroautos läuft. Wir werden feststellen, wie viel Staatsgeld in Stromer und andere Bereiche fließt, wo also Dumping vorliegt, und dann entscheiden.
Spätestens seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist Europa auch militärisch herausgefordert. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?
Russland hat vergangene Woche die Seegrenzen zu Finnland und damit zur EU infragegestellt. Kurz darauf wurden erstmals Seebojen, die die Grenze zwischen Litauen und Russland markieren, einseitig von Russland verschoben. Putin geht jeden Tag einen Schritt weiter, testet uns jeden Tag aus, greift uns hybrid an. Wir dürfen uns nichts mehr vormachen: Russland würde auch dann nicht innehalten, wenn Kiew fällt. Deshalb geht es am 9. Juni um grundsätzliche, um historische Fragen, um unser Lebensmodell.
Und das bedeutet?
Unsere Freiheit und den Frieden innerhalb der Gemeinschaft können wir nur verteidigen, wenn Europa so stark wird, dass keiner auf die Idee kommt, uns herauszufordern. Unsere Antwort ist Stärke – nicht Appeasement. Das bedeutet eine Stärkung der Bundeswehr und den Aufbau eines europäischen Pfeilers der Verteidigung. Wir müssen konkret werden, wenn Emmanuel Macron anbietet, über die Rolle französischer Atomwaffen für Europa zu sprechen. Ich finde es schlimm, dass es dazu keine Reaktion aus Berlin gibt. Ein zweites Beispiel: Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk und sein griechischer Kollege Kyriakos Mitsotakis haben vorgeschlagen, ein gemeinsames Luftverteidigungssystem für Europa auf den Weg zu bringen. Auch auf diesen Vorschlag kommt aus der Bundesregierung nichts als Achselzucken. Das treibt mich um. Wir erleben ein historisches Momentum und es muss etwas passieren. Scholz und Macron müssen jetzt in Europa endlich vorangehen – und zwar nicht im Reden, sondern im Handeln!
Zum Schluss zwei außereuropäische Top-Themen aus den letzten Tagen: Bundeskanzler Scholz musste sich viel Kritik dafür anhören, dass er der iranischen Regierung zum Tod von Präsident Ebrahim Raisi kondoliert hat. War diese Beileidsbekundung richtig oder falsch?
Falsch. Raisi war Mörder seines eigenen Volkes, sein Regime hat Frauen unterdrückt und eingesperrt, Demonstranten getötet.
Von Teheran nach Den Haag: Nicht wenige Experten rechnen damit, dass der Internationale Strafgerichtshof dem Antrag auf Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu stattgeben wird. Bei einer Einreise in die EU müsste er festgenommen werden. Wie groß wäre dieses Dilemma für Europa – und für Deutschland?
Wir Europäer müssen internationales Recht und die Unabhängigkeit der Justiz respektieren. Trotzdem darf man zu diesem Thema eine politische Meinung haben. Ich finde, dass es ein großer Fehler war, die Hamas und eine demokratisch gewählte israelische Regierung – die Regierung eines Rechtsstaates - auf eine Stufe zu stellen. Das war aus politischer Sicht ein fatales Signal.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Weber.