Kurdische Milizen setzen Kampf gegen Terrormiliz IS aus

US-Vizepräsident Pence ist für einen Vermittlungsversuch im Nordsyrienkonflikt in Ankara eingetroffen. Auch Bundeskanzlerin Merkel fordert erneut ein Ende der türkischen Offensive gegen Kurdenmilizen. Aus Syrien kommen besorgniserregende Nachrichten.
von  dpa
Rauch steigt über der syrischen Stadt Ras al-Ain auf, die zuvor durch die türkischen Streitkräfte bombardiert wurde.
Rauch steigt über der syrischen Stadt Ras al-Ain auf, die zuvor durch die türkischen Streitkräfte bombardiert wurde. © Cavit Ozgul/AP/dpa/dpa

Ankara/Berlin - Angesichts der türkischen Offensive im Nordosten Syriens haben die von Kurden angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) den Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) ausgesetzt.

"Wir haben in der Vergangenheit darauf hingewiesen, dass der Kampf gegen den IS im Fall eines Angriffs des türkischen Staates für uns zur Nebensache wird", zitierte die kurdische Nachrichtenagentur Firat den Kommandeur der SDF, Maslum Abdi. "Dieser Fall ist nun eingetreten (...) Wir haben all unsere Aktivitäten gegen den IS eingefroren", sagte Abdi dem kurdischen Fernsehsender Ronahi am späten Mittwochabend.

Die Türkei hatte den Militäreinsatz gegen die Kämpfer der kurdischen YPG-Miliz in Nordsyrien vor rund einer Woche begonnen. Die YPG kontrolliert dort ein großes Gebiet. Die Türkei betrachtet sie als Terrororganisation. Für die USA waren die Kurdenkämpfer allerdings lange Verbündete im Kampf gegen die Terrormiliz IS. Sie bewachten bisher auch Lager mit gefangen genommenen IS-Kämpfern.

Der IS habe sich nun an vielen Orten neu organisiert, warnte Abdi. Rund 12.000 IS-Mitglieder und ihre Angehörigen befänden sich noch in der Region. Auch die von den USA angeführte Anti-IS-Koalition schätzte die Zahl der IS-Angehörigen in Syrien und im Irak im Juni noch auf 14.000 bis 18.000 Personen.

Auf neue Risiken hinsichtlich des IS in der Region und in Europa verwies am Donnerstag auch Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Regierungserklärung im Bundestag. Sie kritisierte, dass die türkische Offensive die bisherigen Erfolge im Kampf gegen den IS, die wesentlich durch die Kurden möglich geworden seien, zunichte gemacht werden könnten. Sie rief die Türkei erneut dazu auf, den Militäreinsatz zu stoppen. Die Militäroperation gegen die Kurdenmiliz YPG sei "ein humanitäres Drama mit großen geopolitischen Folgen".

Sie fügte hinzu: "Und deshalb wird die Bundesregierung unter den jetzigen Bedingungen auch keine Waffen an die Türkei liefern." Bisher hatte die Bundesregierung lediglich angekündigt, dass keine Exporte mehr von Waffen genehmigt werden, die in dem Konflikt eingesetzt werden können.

Wenn man Merkel beim Wort nimmt, erteilt die Bundesregierung jetzt gar keine Liefergenehmigungen mehr für die Türkei, egal um welche Waffen es sich handelt. Außerdem könnte die Aussage bedeuten, dass auch die Auslieferung bereits genehmigter Geschäfte gestoppt wurde. Das wäre ein kompletter Exportstopp, wie er für Saudi-Arabien bereits besteht und wie Teile der Opposition ihn seit Tagen fordern. Dafür gab es aber zunächst keine Bestätigung.

Zugleich hob Bundeskanzlerin Angela Merkel die Leistung der Türkei hervor, die seit Beginn des Bürgerkrieges in Syrien rund 3,6 Millionen geflohene Syrer aufgenommen hatte. Damit leiste die Türkei einen wichtigen Beitrag auch für Europa. Sie werde sich trotz aller Kritik weiter für das türkisch-europäische Flüchtlingsabkommen einsetzen, sagte Merkel.

Die Kanzlerin sprach kurz vor dem Vermittlungsversuch einer hochrangigen US-Delegation in Ankara. Vizepräsident Mike Pence und Außenminister Mike Pompeo kamen am frühen Nachmittag in der türkischen Hauptstadt an und wollten in Gesprächen mit Präsident Recep Tayyip Erdogan und anderen zwischen der Türkei und den Kurdenmilizen in Nordsyrien vermitteln.

Die USA hatten in dieser Woche einen Waffenstillstand verlangt. Weit dürfte die Delegation damit am Donnerstag aber nicht kommen. Zum einen hat sie schon vor Antritt viel an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Zunächst hatte US-Präsident Donald Trump die türkische Offensive erst möglich gemacht, indem er aus dem betroffenen Grenzgebiet US-Soldaten abzog. Seitdem bewegen sich seine Stellungnahmen zwischen krassen Drohungen gegen die Wirtschaft der Türkei und relativierenden Stellungnahmen wie einer vom Mittwoch, wonach der Konflikt sowieso nicht das Problem der USA sei.

Dazu dürfte auch ein in sozialen Medien verspotteter Brief des US-Präsidenten an Erdogan beigetragen haben, der am Mittwoch in den USA ans Licht kam. "Seien Sie kein harter Kerl. Seien Sie kein Narr!", appellierte Trump darin an seinen türkischen Kollegen. Er könne ein "ein großartiges Abkommen schließen" mit den Kurden. Am selben Tag begann die Offensive.

Erdogan hat zudem in einem Gespräch mit türkischen Journalisten gesagt, dass ein Waffenstillstand nicht infrage komme, solange das von ihm ausgerufene Ziel nicht erreicht sei: Die Türkei will entlang der syrisch-türkischen Grenze eine sogenannte Sicherheitszone einrichten und die Kurdenmilizen daraus vertreiben.

Der CSU-Europapolitiker Manfred Weber forderte deshalb am Donnerstag eine deutlich schärfere Reaktion der EU. Dabei schloss er auch den Ausschluss der Türkei aus der europäischen Zollunion nicht aus. Bislang könne das Land zollfrei in die EU exportieren, sagte der Chef der christdemokratischen EVP-Fraktion im Europaparlament dem "Münchner Merkur". "Wenn die Türkei ihr aggressives Verhalten nicht ändert, kann das nicht so bleiben."

Zudem müsse die Europäische Union alle Geldzahlungen an die Türkei einstellen. Die EU dürfe sich vom türkischen Erdogan nicht erpressen lassen, sagte Weber. Erdogan hat mehrfach gedroht, Millionen syrische Flüchtlinge in seinem Land nicht mehr zu halten. Damit würde er den Flüchtlingspakt mit der EU aufkündigen.

Am kommenden Dienstag soll Erdogan in der Schwarzmeer-Stadt Sotschi den russischen Präsident Wladimir Putin treffen. Die russische Außenministeriumssprecherin Maria Sacharowa sagte am Donnerstag, Stabilität und Sicherheit könne es nur geben, wenn die syrische Regierung die Kontrolle übernehme - auch an der Grenze zur Türkei. Moskau unterstützt das syrische Militär.

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