Interview

Krisenforscher Frank Roselieb: "Note Vier für Olaf Scholz"

Der Experte vermisst beim Bundeskanzler beherztes Management in der Corona-Pandemie. Was er über Karl Lauterbach zu sagen hat – und über Markus Söder.
von  Clemens Hagen
Krisenforscher Frank Roselieb kritisiert Kanzler Scholz wegen seiner Corona-Strategie.
Krisenforscher Frank Roselieb kritisiert Kanzler Scholz wegen seiner Corona-Strategie. © Michael Kappeler/dpa

München - AZ-Interview mit Frank Roselieb: Der 52-Jährige ist seit 1998 geschäftsführender Direktor des Kieler Instituts für Krisenforschung ("Krisennavigator"), ein Spin-Off der Universität Kiel, und in ehrenamtlicher Funktion das geschäftsführende Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Krisenmanagement e.V. (DGfKM), dem Berufsverband der Krisenforscher und Krisenmanager mit Sitz in Hamburg.

Während der Corona-Pandemie berät er seit April 2020 Ministerpräsident Daniel Günther im Covid19-Expertengremium der schleswig-holsteinischen Landesregierung.

AZ: Herr Roselieb, die Politik befindet sich seit nunmehr zwei Jahren im Corona-bedingten Dauerstress. Wenn Sie der alten und der neuen Bundesregierung Schulnoten geben müssten, wie würden diese ausfallen? Mit Begründung, bitte.
FRANK ROSELIEB: Alt und neu vermischen sich bei der aktuellen Bundesregierung stark. Olaf Scholz hatte als Vizekanzler im Kabinett Merkel IV genug Zeit zum Üben und Karl Lauterbach war damals gefühlt bereits Schatten-Gesundheitsminister. Im Zwischenzeugnis würde jetzt nach gerade sieben Wochen im Amt bei Olaf Scholz eine Vier stehen, mit dem Zusatz "muss sich am Unterricht mehr beteiligen", und bei Karl Lauterbach eine Zwei, mit dem Zusatz "soll sich von Christian und seinen Freunden bei der Impfpflicht nicht immer in die Parade fahren lassen".

Besonders im Fokus stehen die Gesundheitsminister. Wie schätzen Sie die Krisenkommunikation von Ex-Minister Jens Spahn und seinem Nachfolger Karl Lauterbach ein? Wer macht es besser?
In der Krisenkommunikation setzen Politiker in der Regel auf das "good-guy-bad-guy"-Prinzip. Bei Jens Spahn war RKI-Präsident Lothar Wieler der wissenschaftliche "bad guy". Er hat die ganzen schlechten Nachrichten verkündet - wie die steigenden Inzidenzen oder notwendigen Kontaktbeschränkungen. Jens Spahn konnte anschließend als politischer "good guy" mit den guten Nachrichten punkten - beispielsweise den umfangreichen Corona-Hilfen oder kostenlosen Schnelltests. Aus dieser Perspektive hat Karl Lauterbach nach der Wahl auf der falschen Seite Platz genommen. Er ist weiter als wissenschaftlicher "bad guy" mit den ganzen schlechten Nachrichten unterwegs, egal ob in der Bundespressekonferenz oder in diversen Talkshows. Das kann langfristig nicht funktionieren, denn es fehlt die gute Seite, die den Menschen Hoffnung macht.

Krisenforscher Frank Roselieb
Krisenforscher Frank Roselieb © Krisennavigator Kiel/Hamburg

Welche Rolle spielt die fachliche Kompetenz der beiden in der öffentlichen Wahrnehmung - Spahn ist Bankkaufmann, Lauterbach Virologe?
Eine relativ geringe. Bei der Besetzung von Spitzenpositionen in Krisenstäben unterscheiden wir zwischen Machtpromotoren und Fachpromotoren. Der Fachpromotor hat das Wissen und der Machtpromotor die Möglichkeiten. Im Gesundheitsressort ist das Themenspektrum riesig. Es reicht von Finanzierungsfragen der Krankenversicherung bis hin zu technischen Innovationen im OP. Dieses Wissen kann kein Minister allein haben. Er vertraut daher klugerweise auf den Beamtenapparat und die Expertenbeiräte im Hintergrund. Seine Aufgabe ist die Abwägung des Politisch-Möglichen und der anschließende Impuls zur Umsetzung. Hier schadet es manchmal, allzu tief im Thema zu stecken. Ein guter Ingenieur ist eben auch in der Politik noch lange kein guter Kaufmann. Das könnte für Karl Lauterbach irgendwann zum Problem werden.

"Söders Tasse - großes Kino und erstklassige Krisenkommunikation"

Vergleicht man die Performance von Altkanzlerin Angela Merkel mit der ihres Nachfolgers Olaf Scholz, so fällt auf, dass der aktuelle Regierungschef kaum Statements zur Corona-Krise abgegeben hat. Taktik - oder Planlosigkeit?

Einerseits Taktik und andererseits Selbstreflexion. Taktik, weil Pandemien typische "Lose-Lose"-Situationen sind. Sie dauern ewig und egal, was man sagt oder entscheidet, es ist oft das Falsche. Daher lohnt es sich, den Ball flach zu halten. Gerade bei "geerbten" Krisen der Vorgängerregierung wie bei Corona. Andererseits bieten Krisen und Katastrophen aber auch großartige Profilierungs-chancen. Seit seinem legendären Einsatz bei der Hamburger Flut 1962 war Helmut Schmidt "der" Krisenmanager schlechthin und Matthias Platzeck wurde mit der Oder-Flut 1997 kurzerhand zum "Deichgraf". Beide SPD-Politiker haben im Kriseneinsatz echte Manager-Qualitäten bewiesen. Ganz anders Olaf Scholz. Als "Scholzomat" ist er eher der kühle Krisenverwalter als der emotionale Krisenmanager. Auch Reden liest er meist ab, statt in freier Rede die Menschen zu begeistern. Mittelfristig kann das zum Problem werden, denn Krisen lassen sich nur selten "verwalten". Oft bleibt nur beherztes Krisenmanagement. Aber Olaf Scholz kennt sicherlich seine Schwächen.

"Ganz großes Kino und erstklassige Krisenkommunikation": Krisenforscher Frank Roselieb über CSU-Chef Markus Söder mit seiner bekannten Tasse mit der Aufschrift "Winter is coming" ("Der Winter kommt").
"Ganz großes Kino und erstklassige Krisenkommunikation": Krisenforscher Frank Roselieb über CSU-Chef Markus Söder mit seiner bekannten Tasse mit der Aufschrift "Winter is coming" ("Der Winter kommt"). © Sven Hoppe/dpa

Besonderes Interesse aus bayerischer Sicht genießt natürlich Ministerpräsident Markus Söder, der gerade eine beachtenswerte Kehrtwendung weg vom Corona-Hardliner hin zum Lange-Leine-Vorreiter vollführt hat. Ihre Erklärung dafür?
Beide Rollen spielt er aber recht gut. Als die Inzidenzen im September 2020 wieder leicht angestiegen sind, hat Markus Söder beim virtuellen CSU-Parteitag seine "Winter is coming"-Tasse dezent ins Bild gerückt. Wären die Werte niedrig geblieben, hätte er dies problemlos mit seiner Leidenschaft für "Game of Thrones" begründen können. Als die Werte dann tatsächlich gestiegen sind, war das natürlich ein ganz klarer Hinweis auf den beginnenden Wintermodus der Pandemie. Also ganz großes Kino und nebenbei erstklassige Krisenkommunikation für das Team "Vorsicht". Was dann allerdings nicht passieren darf, sind handwerkliche Fehler im operativen Krisenmanagement - wie jüngst bei den gerichtlich gekippten 2G-Regeln im bayerischen Handel wegen fehlender "Klarheit" der Verordnung durch die Staatsregierung. Dann hilft auch in Bayern in der Krisenkommunikation nur ein "Mea Culpa".

Krisenforscher Frank Roselieb: "Kampf gegen Fake News kann kein Politiker wirklich gewinnen"

Was seine zweifellos vorhandenen bundespolitischen Ambitionen betrifft: Vergrätzt Söder mit diesem Sinneswandel nicht seine Fanbase? Oder ist in der Pandemie generell politischer Opportunismus gefragt, auch weil sich die Situation beinahe täglich ändert?
Letzteres. Unsere US-amerikanischen Kollegen sprechen beim Krisenmanagement in einer Pandemie nicht ohne Grund von einer "Hammer and Dance"-Strategie: Am Anfang schlägt man kräftig drauf, um die Lage halbwegs wieder unter Kontrolle zu bringen. Das war bei uns die erste Corona-Phase mit dem Lockdown von März bis Mai 2020. Doch dann muss man lernen, mit dem Virus zu leben. Corona ist einfach zu wenig kalkulierbar, um politisch längerfristig planen zu können. Niemand weiß, welche Mutante morgen für Probleme beim Impfstoff sorgt. Darum war es auch ein kluger Schachzug in Bayern, gleich dreimal in Folge den Katastrophenfall auszurufen. So kann der bayerischen Staatsregierung später niemand vorwerfen, sie habe die Lage unterschätzt. Ist dagegen zu wenig Alarm in der Luft, endet die Karriere eines Spitzenpolitikers nicht selten recht abrupt mit der Krise - wie jüngst nach der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz beim Landrat von Ahrweiler.

Die Corona-Impfung macht unfruchtbar. Das ist nur eine von vielen alternativen Fakten - oder präziser: Fake News -, die während der Pandemie aufgeploppt sind. Unternehmen die politisch Verantwortlichen genug, um diese zu entkräften beziehungsweise zu widerlegen?
Den Kampf gegen Fake News kann kein Politiker wirklich gewinnen. Es ist ein bisschen wie mit den Geisterfahrern auf der Autobahn: Als Oberbürgermeisterin oder Verkehrsminister stellen Sie Schilder ohne Ende auf. Und trotzdem biegen immer wieder Menschen falsch ab und gefährden andere. Ähnlich ist es in einer Pandemie. Dialoge und Kommunikation helfen am Anfang, weil dann noch ein Wissensdefizit vorliegt. Das Thema ist neu und es stellen sich viele Fragen. Doch irgendwann sind alle Argumente ausgetauscht. Dann bleiben nur noch die Menschen mit einem Wissensdissens übrig. Sie bewerten Fakten anders - oder gar nicht. Hier können Politiker im Schlussakkord nur noch an die Logik der Demokratie erinnern: Wenn sich bereits Anfang Dezember 2021 - also noch vor der Omikron-Welle - 71 Prozent der Deutschen im ARD-Deutschlandtrend für eine allgemeine Impfpflicht aussprechen, muss sich die Minderheit eben fügen.

Als wie groß - und gefährlich - sehen Sie die Fliehkräfte, die durch die Corona-Krise in der Gesellschaft in den letzten zwei Jahren entstanden sind? Also zwischen Impfbefürwortern auf der einen und Impfskeptikern und -leugnern auf der anderen Seite.
Gering. Ich mache den Job jetzt seit fast 25 Jahren. Egal ob Bahnhofsumbau in Stuttgart oder Durchführung einer Volkszählung - immer war irgendjemand recht lautstark dagegen. Das ist in einer repräsentativen Demokratie nichts Ungewöhnliches und gehört einfach zur DNA unserer Staatsform. Schließlich wurden die Entscheidungen nicht einstimmig, sondern eben nur mehrheitlich in den Parlamenten getroffen. Auch heute gibt es noch Menschen, die sich trotz allgemeiner Gurtpflicht seit 1976 nicht anschnallen, schließlich ist es ja "ihr" Auto und überhaupt "ihre" Freiheit. "Auseinandergeflogen" ist unsere Gesellschaft dadurch in den zurückliegenden 46 Jahren aber nicht. Das dürfte bei der Impfpflicht ähnlich sein.

Ist Ihnen als Kommunikationsexperte die leise Mehrheit zu leise verglichen mit der sehr lauten Minderheit? Sollte sie ihre Stimme deutlicher vernehmbar machen?
Nein. Letztlich ist es Aufgabe der Minderheit, die Mehrheit von ihrer Minderheitsmeinung zu überzeugen, wenn sie sich etwas anders wünscht. Wenn die Minderheit zwar laut ist, aber nicht größer wird, bleibt sie eben eine Minderheit. "Werbefläche" in den Medien und auf den Straßen hatten die Impfgegner und Corona-Skeptiker genug. Wenn aber ihr "Produkt" die Mehrheit nicht überzeugt, dann ist es eben in der Demokratie kein gutes Produkt.

"Stoiber hatte kein Reputationspolster aufgebaut"

Eine letzte Frage zum vergangenen Bundestagswahlkampf: Wie viel Schuld hat der berühmt gewordene Lacher im Flutgebiet im Ahrtal an der Niederlage von Armin Laschet gehabt? Und: Wie kann so etwas einem Polit-Profi überhaupt passieren?
Genau so viel oder wenig wie die Gummistiefel von Gerhard Schröder bei der Elbe-Flut kurz vor der Bundestagswahl 2002: also relativ wenig. In der Wahrnehmung vieler Beobachter war dagegen frühzeitig klar: Gerhard Schröder hat seinen Herausforderer Edmund Stoiber im Hochwasser damals förmlich "versenkt". Nach mehr als zwei Jahrzehnten Krisenforschung wissen wir, dass es bei Krisenfällen eher genau umgekehrt ist: Edmund Stoiber hat sich selbst "versenkt", weil er vor der Wahl kein hinreichendes Reputationspolster auf Bundesebene aufgebaut hat. Ähnlich wie Armin Laschet 2021. Natürlich ist die Katastrophenperformance von Spitzenpolitikern wichtig, aber eben nicht allein. Auch bei der Bundestagswahl 2002 stand am Ende ein Patt: jeweils 38,5 Prozent der Zweitstimmen für SPD und CDU/CSU. Echte Krisengewinnler sehen wahrlich anders aus.

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