Krieg in der Ukraine: So ist die Lage am Samstag

Von der Ukraine gibt es eine Schätzung zur Zahl der getöteten Soldaten und Verstimmung wegen einer Biden-Aussage. Die Kämpfe in der Ostukraine gehen weiter. Die Entwicklungen im Überblick.
von  AZ/dpa
Eine Frau schwenkt die ukrainische Flagge auf einem zerstörten russischen Panzer in Kiew. Die Sonne scheint, aber es herrschen Traurigkeit und grimmige Entschlossenheit.
Eine Frau schwenkt die ukrainische Flagge auf einem zerstörten russischen Panzer in Kiew. Die Sonne scheint, aber es herrschen Traurigkeit und grimmige Entschlossenheit. © Natacha Pisarenko/AP/dpa

Kiew/Moskau - In gut dreieinhalb Monaten des russischen Angriffskrieges sind nach Regierungsangaben etwa 10.000 ukrainische Soldaten getötet worden. Ein Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj machte die Zahl in der Nacht zum Samstag öffentlich.

In der Ostukraine gehen unterdessen die Kämpfe ohne große Veränderungen des Frontverlaufs weiter. Die ukrainische Seite spricht von Erfolgen ihrer Artillerie dank westlicher Munition - und appelliert, das Tempo der Waffenlieferungen zu erhöhen.

"Russland will jede Stadt im Donbass zerstören, "jede" ist keine Übertreibung. Wie Wolnowacha, wie Mariupol", sagte Selenskyj in seiner Videoansprache. "All diese Ruinen in einst glücklichen Städten, schwarze Spuren von Bränden, Krater von Explosionen - das ist alles, was Russland seinen Nachbarn, Europa und der Welt geben kann."

Biden: "Selenskyj wollte nicht hören"

Die politische Führung in Kiew hat verstimmt auf Äußerungen US-Präsident Joe Biden reagiert, wonach der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vor Kriegsbeginn die von Russland ausgehende Gefahr nicht ernst genug genommen haben soll. Bei einer Fundraiser-Veranstaltung am Freitagabend in Los Angeles hatte Biden gesagt, es habe bereits vor dem 24. Februar Beweise dafür gegeben, dass Kremlchef Wladimir Putin die Ukraine überfallen wolle. Dann fügte er hinzu: "Es gab keinen Zweifel. Und Selenskyj wollte es nicht hören - viele Leute wollten es nicht."

"Die Phrase "wollte nicht hören" bedarf sicherlich einer Erläuterung", sagte am Samstag der ukrainische Präsidentensprecher Serhij Nykyforow. Selenskyj habe die internationalen Partner immer wieder dazu aufgerufen, präventiv Sanktionen zu verhängen, um Russland zu einem Abzug der damals bereits in der Grenzregion zur Ukraine stationierten Truppen zu zwingen, sagte Nykyforow der Onlinezeitung Liga.net. "Und hier kann man schon sagen, dass unsere Partner "uns nicht hören wollten"", sagte er.

Heftige Kämpfe um Sjewjerodonezk

Ukrainer und Russen liefern sich nach Angaben der britischen Regierung heftige Straßenkämpfe um die ostukrainische Großstadt Sjewjerodonezk. Beide Seiten dürften wahrscheinlich eine hohe Zahl an Opfern erleiden, schrieb das britische Verteidigungsministerium.

Außerdem meldeten die Briten, die russischen Luftstreitkräfte hätten mangels modernerer Waffen seit April Dutzende alte, unpräzise Schiffsabwehrraketen gegen Ziele an Land verwendet. Die Geschosse vom Typ Kh-22 stammten aus den 1960er Jahren und seien eigentlich dafür entwickelt worden, Flugzeugträger mit einem Atomsprengkopf zu zerstören.

Erste Angaben zu ukrainischen Verlusten seit Monaten

Die Zahl von rund 10.000 getöteten ukrainischen Soldaten stammt vom Präsidenten-Berater Olexij Arestowytsch. Er nannte sie in einem seiner regelmäßigen Youtube-Videointerviews mit dem russischen Oppositionellen Mark Feygin. Diese Woche hatte Verteidigungsminister Olexij Resnikow bereits gesagt, dass aktuell täglich bis zu 100 ukrainische Soldaten getötet würden. Arestowytsch betonte, dass auf ukrainischer Seite auch zu Beginn des Krieges rund 100 Militärangehörige pro Tag gestorben seien. Auf Feygins Frage, ob man also von rund 10.000 getöteten Soldaten insgesamt ausgehen könne, antwortete er: "Ja, so in etwa."

Weder von der Ukraine noch von Russland gab es bisher erschöpfende Angaben zu den Verlusten in dem am 24. Februar begonnenen Krieg. Selenskyj hatte zuletzt Mitte April in einem CNN-Interview von bis zu 3000 getöteten Soldaten gesprochen.

Dringlicher Ruf nach schnelleren Waffenlieferungen

Laut Arestowytsch werden dauerhaft mehr russische als ukrainische Soldaten getötet. Am Freitag seien die Angriffe der ukrainischen Artillerie mit westlicher Munition besonders effizient gewesen, sagte er und gab die Schätzung von rund 600 getöteten russischen Soldaten ab. Mit Blick darauf appellierte der Selenskyj-Berater an den Westen, viel schneller Waffen und Munition zu liefern. Die ukrainische Regierung sei zwar für die bisherige Hilfe sehr dankbar, ohne die man vermutlich bereits hinter den Dnipro-Fluss zurückgedrängt worden wäre. Er verstehe aber die Langsamkeit bei den Lieferungen nicht. Um die russische Aggression zurückzuschlagen, brauche die Ukraine unter anderem schnell mehr Artillerie-Feuerkraft, betonte Arestowytch.

Selenskyj: Zukunft wird auf dem Schlachtfeld entschieden

Auch Selenskyj selbst dringt beim Westen auf schnellere Waffenlieferungen. Zwar bereite sich die ukrainische Regierung auf den Wiederaufbau vor, sagte er in seiner täglichen Videoansprache. Aber in den derzeitigen "schwierigen" Schlachten werde entschieden, wie schnell diese Zeit danach kommen werde. Und die ukrainischen Truppen könnte den Vormarsch des russischen Militärs nur so gut aufhalten, wie ihre Waffen es ihnen erlaubten.

Russland händigt in ukrainischem Gebiet Pässe aus

Russland setzt seine Versuche fort, besetzte ukrainische Gebiete enger an sich zu binden. In den von russischen Truppen kontrollierten Teilen der Region Saporischschja sollen von Samstag an russische Pässe ausgehändigt werden. Die Empfänger würden danach als vollwertige Bürger Russlands betrachtet, sagte ein Mitglied der Besatzungsbehörden, Wladimir Rogow, dem Fernsehsender Rossija-24. Ihm zufolge haben dort mehr als 70.000 Menschen Anträge gestellt.

Ukrainische Behörden werfen den Besatzern vor, Menschen in die russische Staatsbürgerschaft zu drängen und befürchten eine Annexion der besetzten Gebiete. Laut Arestowytsch wurde im besetzten Gebiet Cherson ein russischer General getötet, der eine Volksabstimmung über einen Anschluss an Russland habe durchführen sollen. Laut der russischen Nachrichtenagentur Tass erhielten in den vergangenen drei Jahren mehr als 800.000 Menschen die russische Staatsbürgerschaft auf vereinfachtem Weg. Nur knapp ein Prozent der Anträge von Bewohnern der selbst ernannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk sei abgelehnt worden, meldete Tass unter Berufung auf das Innenministerium in Moskau.

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