Russische Truppen führen neue Reserven an Sjewjerodonezk heran

Im Osten der Ukraine geht der Kampf um die wichtige Stadt Sjewjerodonezk weiter. Russland hat die Angriffe nach ukrainischen Angaben mit Hilfe frischer Reserven fortgesetzt. Ein Überblick.
von  AZ/dpa
Lyssytschansk: Ein Lastwagen mit Raketen passiert Schikanen auf der Landstraße.
Lyssytschansk: Ein Lastwagen mit Raketen passiert Schikanen auf der Landstraße. © Rick Mave/SOPA Images via ZUMA Press Wire

Kiew - Beim Kampf um die Stadt Sjewjerodonezk im ostukrainischen Gebiet Luhansk hat Russland die Angriffe nach ukrainischen Angaben mit Hilfe frischer Reserven forciert.

"Mit Artillerieunterstützung führt der Feind Sturmhandlungen in der Ortschaft Sjewjerodonezk durch, hat seine Gruppierung mit der mobilen Reserve des 2. Armeekorps verstärkt, die Kämpfe in der Stadt halten an", teilte der ukrainische Generalstab am Samstag in seinem Lagebericht mit.

Russische Angriffe auf den Vorort Ustynowka seien ebenso erfolglos verlaufen wie eine versuchte Bodenoffensive im Raum Bachmut, berichtete der Generalstab. Die russischen Angriffe zielen darauf ab, die ukrainischen Truppen in Sjewjerodonezk von der Versorgung abzuschneiden und sie einzukesseln.

Vollständige russische Einnahme von Sjewjerodonezk bislang nicht gelungen

Die Gegend um Sjewjerodonezk - Lyssytschansk - ist ein Ballungsraum, in dem vor dem Krieg 380.000 Menschen lebten. Sie ist der letzte Flecken im Gebiet Luhansk, der noch von kiewtreuen Truppen gehalten wird. In der vergangenen Woche sind die russischen Truppen erstmals in Sjewjerodonezk eingedrungen, doch die vollständige Einnahme der früheren Großstadt ist bislang nicht gelungen.

Soldaten blicken auf den Rauch, der aus der Ölraffinerie von Lyssytschansk kommt. Lyssytschansk ist eine langgestreckte Stadt am hohen rechten Ufer des Donez in der Region Luhansk.
Soldaten blicken auf den Rauch, der aus der Ölraffinerie von Lyssytschansk kommt. Lyssytschansk ist eine langgestreckte Stadt am hohen rechten Ufer des Donez in der Region Luhansk. © Rick Mave/SOPA Images via ZUMA Press Wire

Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs verliefen auch die russischen Angriffe Richtung Slowjansk in der Nacht erfolglos. Erstürmungsversuche seien in den Ortschaften Bogorodytschne und Wirnopillja zurückgeschlagen worden, die Russen hätten Verluste erlitten.

Der Ballungsraum Slowjansk mit etwa einer halben Million Einwohner vor dem Krieg ist ein weiteres wichtiges Ziel der russischen Angriffe im Donbass. Dort liegt das Hauptquartier der ukrainischen Verteidigungskräfte in der Region.

Die Militärexperten des amerikanischen Institute for the Study of the War (ISW) teilten in einer aktuellen Lageeinschätzung mit, die Russen hätten im Raum Isjum etwa 20 taktische Bataillone für einen Vormarsch auf Slowjansk zusammengezogen. Es sei aber unwahrscheinlich, dass die russischen Truppen dort in den nächsten Tagen substanzielle Fortschritte machten.

Frieden, Sieg, Ukraine: Selenskyj beschwört Glauben an den Erfolg

Laut dem ukrainischen Generalstab gibt es auch an anderen Frontabschnitten kaum Bewegung. Im Norden bei Charkiw sei der Feind ebenso in die Defensive gegangen wie im Süden des Landes. Unabhängig überprüfen lassen sich diese Angaben nicht.

Ukrainische Soldaten knien während der Trauerfeier für einen Offizier in Schytomyr nieder. Nach Angaben von Kampfgefährten wurde er im Kampf gegen russische Truppen von einer Granate getötet.
Ukrainische Soldaten knien während der Trauerfeier für einen Offizier in Schytomyr nieder. Nach Angaben von Kampfgefährten wurde er im Kampf gegen russische Truppen von einer Granate getötet. © Natacha Pisarenko/AP/dpa

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat 100 Tage nach dem russischen Einmarsch in sein Land den Glauben an den Sieg beschworen. Es gebe drei Dinge, für die seine Landsleute kämpften: Frieden, Sieg, Ukraine, sagte Selenskyj in seiner Videoansprache.

Diese wurde unter freiem Himmel vor seinem Amtssitz in Kiew aufgenommen. Russlands Präsident Wladimir Putin hatte am 24. Februar den Angriff auf das Nachbarland befohlen. Der Samstag ist für die Ukraine also der 101. Tag des Krieges.

Vertreter seines Landes würden sich erst wieder an den Verhandlungstisch setzen, wenn ihre militärische Position stärker sei, sagte der ukrainische Chefunterhändler Dawyd Arachamija. Eine Verhandlungspause sei besser, solange im Osten des Landes schwere Gefechte tobten. Dort kämpften in der Stadt Sjewjerodonezk im Donbass russische und ukrainische Soldaten weiter um jeden Straßenzug. Zugleich beobachtete das ukrainische Militär nach eigenen Angaben eine Ansammlung russischer Truppen, die anscheinend die Stadt Slowjansk angreifen sollen.

Guterres fordert Ende der Gewalt in der Ukraine

Vor dem Angriff habe die russische Armee den Ruf als zweitstärkste der Welt gehabt, sagte Selenskyj. "Was ist von ihr geblieben?", fragte er: "Kriegsverbrechen, Schande und Hass." Die Ukraine aber habe bestanden, sie bestehe und werde bestehen.

Eine ukrainische Flagge liegt nach einem Raketeneinschlag in den Trümmern einer Schule in Charkiw.
Eine ukrainische Flagge liegt nach einem Raketeneinschlag in den Trümmern einer Schule in Charkiw. © Carol Guzy/ZUMA Press Wire/dpa

UN-Generalsekretär António Guterres forderte unterdessen ein sofortiges Ende der Gewalt. Zudem betonte er in einer Mitteilung von Freitag (Ortszeit), eine Lösung des Konflikts erfordere Verhandlungen und Dialog. Die Vereinten Nationen würden all solche Bemühungen unterstützen. "Je eher sich die Parteien aufrichtig um eine Beendigung dieses Krieges bemühen, desto besser für die Ukraine, Russland und die Welt", schrieb Guterres.

Guterres forderte ungehinderten Zugang humanitärer Helfer zu allen Bedürftigen. Zudem sollten in den Kampfgebieten eingeschlossene Zivilisten evakuiert, die Zivilbevölkerung geschützt und die Menschenrechte im Einklang mit den internationalen Normen geachtet werden, so Guterres.

Russische Raketenangriffe auf Artillerieschule

Das russische Militär traf nach eigenen Angaben ein Zentrum zur Schulung von Artilleristen an westlicher Waffentechnik. "Mit hochpräzisen Luft-Boden-Raketen wurde eine Schlag gegen ein Artillerieausbildungszentrum der ukrainischen Streitkräfte im Raum Stezkiwka im Gebiet Sumy geführt", sagte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow. In dem Zentrum seien die Soldaten in der Handhabung der westlichen Haubitze M777 unterrichtet worden, fügte er hinzu.

Moskau kritisiert seit Monaten die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine. Nach Ansicht des Kremls wäre der Krieg ohne die Rüstungshilfe schon beendet. Um diese Hilfe zu verringern, betont die russische Führung die Vernichtung westlicher Waffen und Freiwilliger besonders. Konaschenkow erklärte so am Samstag auch, dass im Gebiet Odessa im Süden der Ukraine "ein Lager ausländischer Söldner" durch einen Raketeneinschlag vernichtet worden sei.

Afrikanische Union dringt auf Ende der Getreideblockade

Eine Folge des Krieges ist der Ausfall ukrainischer Getreidelieferungen, der vor allem in Afrika zu Hungersnöten zu führen droht. Der Präsident der Afrikanischen Union (AU), Macky Sall, pochte bei einem Treffen mit Putin darauf, die Blockade der Ausfuhren zu beenden. Seiner Interpretation des Gesprächs nach zeigte sich Putin bereit, den Export von Weizen und Düngemitteln auf den afrikanischen Kontinent zu gewährleisten.

Die Überreste einer russischen Tochka-Rakete liegen auf einem Feld am Rand von Kostjantyniwka. Die Rakete wurde vom ukrainischen Raketenabwehrsystem der Stadt abgefangen.
Die Überreste einer russischen Tochka-Rakete liegen auf einem Feld am Rand von Kostjantyniwka. Die Rakete wurde vom ukrainischen Raketenabwehrsystem der Stadt abgefangen. © Celestino Arce Lavin/ZUMA Press Wire/dpa

Putin wies jede Verantwortung für die Getreideknappheit auf dem Weltmarkt zurück. Die Krise habe schon vor dem Krieg begonnen, der nach offizieller Sprachregelung in Russland militärische Spezialoperation genannt wird. Nicht sein Land verhindere einen Export von Weizen aus der Ukraine, sagte Putin im Fernsehen. Die Ukraine solle die Minen vor ihren Häfen an der Schwarzmeer-Küste entfernen. Die russische Armee werde dies nicht für Angriffe ausnutzen, versprach er.

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba sagte, die Ukraine sei bereit, wieder Getreide über den Hafen Odessa zu exportieren. Es gebe aber keine Garantie Russlands, dies nicht zu einem Angriff zu nutzen. "Wir suchen Lösungen mit den UN und anderen Partnern."

Das bringt der Tag

Der russische Außenminister Sergej Lawrow wird zu einem Besuch in Belgrad erwartet - der Hauptstadt Serbiens, das seit den 1990er Jahren enge Beziehungen zu Russland pflegt.

Bei Energieträgern wie Gas und Öl ist das Balkanland stark abhängig von der östlichen Großmacht. Den EU-Sanktionen gegen Russland schloss es sich bisher nicht an. Die Europäische Union wiederum sieht den engen Draht des Beitrittskandidaten Serbien nach Moskau mit Argwohn.

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