Köhler: „Ich vermisse den notwendigen Respekt“

Ein historischer Abgang unter Tränen: Horst Köhler wirft frustriert und im Alleingang als Staatsoberhaupt hin. Berlin ist geschockt Hintergrund sind umstrittene Äußerungen des Staatsoberhaupts über den Bundeswehreinsatz in Afghanistan.
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Horst Köhler in Afghanistan
dpa Horst Köhler in Afghanistan

BERLIN - Ein historischer Abgang unter Tränen: Horst Köhler wirft frustriert und im Alleingang als Staatsoberhaupt hin. Berlin ist geschockt Hintergrund sind umstrittene Äußerungen des Staatsoberhaupts über den Bundeswehreinsatz in Afghanistan.

Seine Augen waren noch weiter aufgerissen als sonst, sein Gesicht gerötet, immer wieder traten ihm die Tränen in den Augen: Sichtlich mitgenommen hat Horst Köhler gestern als erstes deutsches Staatsoberhaupt seinen sofortigen Rücktritt erklärt – ein historisches Novum.

Anlass war die Kritik an seinen Bundeswehr-Sätzen (siehe Kasten): „Ich bedauere, dass meine Äußerungen in einer für unsere Nation schwierigen Frage zu Missverständnissen führen konnten. Die Kritik geht aber soweit, mir zu unterstellen, ich befürwortete Einsätze der Bundeswehr, die vom Grundgesetz nicht gedeckt seien“, eröffnet der Bundespräsident seine dreiminütige Abschieds-Rede im Schloss Bellevue. „Diese Kritik entbehrt jeder Rechtfertigung. Sie lässt den notwendigen Respekt für mein Amt vermissen“, fährt er mit hörbaren Ärger und Frust fort.

Und dann: „Ich erkläre hiermit meinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten.“ Pause, ihm stockt die Stimme. „Mit sofortiger Wirkung.“ Er fängt sich wieder, berichtet, welche Verfassungsorgane er in Kenntnis gesetzt habe, und wendet sich dann an die Menschen im Land. Da steigen ihm wieder die Tränen in die Augen: „Ich bitte Sie um Verständnis. Es war mir eine Ehre, Deutschland als Bundespräsident zu dienen.“ Er wartet keine Reaktion ab, dreht sich zur Seite und geht. Seine Ehefrau Eva-Luise, die die ganze Zeit neben ihm gestanden hat, folgt ihm wortlos. Sie verlassen sofort den Amtssitz des Bundespräsidenten, fahren in einer Limousine davon.

Berlin ist wie vom Donner gerührt. Das hatte niemand auf der Agenda. Um 12.30 Uhr hatte das Bundespräsidialamt dürr eine Stellungnahme für 14 Uhr angekündigt, einige wenige Medien gingen hin. Andere berichteten über den Auftritt in Bellevue „nach Augenzeugenberichten“ – als ob es um einen Schauplatz in unzugänglichen Regionen Afghanistans ginge. Köhlers alter Sprecher ist schon weg, die neue hätte erst heute angefangen: Das hat auch zu der unglücklichen PR-Strategie um die Äußerungen geführt, das mag auch den einsamen und offenbar unabgestimmten Auftritt des Ehepaars Köhler erklären.

Aus Westerwelles Umgebung hieß es, er sei erst am Mittag informiert worden. „Er war wie vom Donner gerührt“, hieß es. Westerwelle habe versucht, Köhler umzustimmen – vergeblich. Dann beriet sich der FDP-Chef mit Kanzlerin Bundeskanzlerin Angela Merkel über das weitere Vorgehen. Sie cancelte umgehend ihren geplanten Besuch beim Trainingslager der deutschen Fußballnationalmannschaft in Südtirol, führte in Berlin ein Gespräch nach dem anderen. Öffentlich reagiert hat sie bisher nicht.

Die schwarz-gelbe Regierung wird durch den völlig unerwarteten Rücktritt des Staatsoberhaupts nur ein Jahr nach seiner Wiederwahl völlig kalt erwischt – zu einem Zeitpunkt, wo es mit Euro- und Schuldenkrise sowie der verlorenen NRW-Wahl wie Bundesratsmehrheit genug offene Baustellen gibt. In der Bundesversammlung, die nun binnen 30 Tagen einen Nachfolger wählen muss, hat Schwarz-Gelb noch eine Mehrheit (siehe Text unten auf der Seite 3), doch die Suche nach einem Nachfolger wird nicht einfach.

Bei aller Überraschung – eines gilt in Berlin auch als sicher: Der Streit um die Sätze und der auffallende mangelnde Rückhalt bei Schwarz-Gelb war nur der letzte Tropfen. Der Frust war bei Köhler seit langem gewachsen, der Draht zu Bundeskanzlerin Angela Merkel, die ihn einst ins Amt gehievt hatte, war zuletzt sehr dünn geworden (siehe Seite 3). Da reichte offenbar der letzte Auslöser.

Derzeit ist jedenfalls ein Sozialdemokrat Staatsoberhaupt: Laut Protokoll übernimmt der amtierende Bundesratspräsident kommissarisch das Amt – und das ist der Bremer Bürgermeister Jens Böhrnsen. Der als fleißig und zurückhaltend geltende SPD-Mann sagt dazu nur, als Bürger sei er „traurig“ über Köhlers Schritt.

tan

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