Klatsche aus Karlsruhe: Aus für Vorratsdatenspeicherung

Löschen statt sammeln: Das Verfassungsgericht kippt die von der großen Koalition eingeführte Speicherung aller Telefon- und Internetdaten. FDP, Opposition und Datenschützer jubeln, Union grollt.
von  Abendzeitung
Vorratsdatenspeicherung ist verfassungswidrig
Vorratsdatenspeicherung ist verfassungswidrig © dpa

KARLSRUHE - Löschen statt sammeln: Das Verfassungsgericht kippt die von der großen Koalition eingeführte Speicherung aller Telefon- und Internetdaten. FDP, Opposition und Datenschützer jubeln, Union grollt.

Dieses Urteil ist eine krachende Watschn für die Politik: Das Bundesverfassungsgericht hat am Dienstag die Massen-Speicherung von Telefon- und Internetdaten zur Strafverfolgung gekippt. Die Vorratsdatenspeicherung ist in ihrer derzeitigen Form grundgesetzwidrig – und nichtig. Im größten Verfahren in der Geschichte des Gerichts hatten 35 000 Bürger geklagt, darunter Bundestagsabgeordnete von FDP und Grünen.

Wie begründen die Richter ihr Urteil? Die Speicherung von Daten auf Vorrat verstößt gegen das Telekommunikationsgeheimnis, das von Artikel 10 des Grundgesetzes geschützt wird (siehe Kasten). Bei der Speicherung handele es sich „um einen besonders schweren Eingriff mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt“, sagte der scheidende Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier in seiner letzten Urteilsverkündung. Anhand der Vielzahl von Daten seien „tiefe Einblicke in das soziale Umfeld“ und damit in die Privatsphäre der Bürger möglich. Die anlasslose Speicherung der Daten sei geeignet, ein „diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetsein“ hervorzurufen.

Welche Daten wurden bisher gesammelt? Mit dem Gesetz, das 2008 in Kraft trat, setzte die große Koalition eine EU-Richtlinie um – dehnte die Vorgaben aus Brüssel aber weit aus. Seitdem werden alle Verbindungsdaten automatisch und ohne Anlass für sechs Monate gespeichert. Dazu zählen Nummern, Uhrzeit und Dauer von Telefonaten, Aufenthaltsorte der Gesprächspartner, Verbindungsdaten von Mails, SMS und MMS sowie IP-Adressen von Sendern und Empfängern. Seit einer einstweiligen Anordnung des Verfassungsgerichts vom März 2008 dürfen Telekommunikationsfirmen Daten aber nur noch beim Verdacht auf schwere Straftaten an Ermittler weitergeben.

Was passiert mit den bisher gesammelten Daten? Nach dem Urteil müssen alle auf Vorrat gespeicherten Daten unverzüglich gelöscht werden. Bis ein neues Gesetz in Kraft tritt, darf nicht mehr gesammelt werden. Ausgenommen sind davon Daten, die aus betrieblichen Gründen gesammelt werden – etwa für Einzelverbindungsnachweise.

Ist die Datenschnüffelei damit tot? Nein, die Vorratsdatenspeicherung bleibt grundsätzlich möglich. Karlsruhe stellt die Zulässigkeit der EU-Richtlinie ausdrücklich nicht in Frage. Auch sehen die Richter „keinen Anlass“, den Fall dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen. Inzwischen bekommt aber selbst Brüssel kalte Füße: Justizkommissarin Viviane Reding kündigte an, „noch in diesem Jahr“ zu überprüfen, ob die Vorratsdatenspeicherung mit der EU-Grundrechtecharta vereinbar ist.

Was sagt die Kommunikations-Branche? Die Telekommunikations-Anbieter fürchten, auf erheblichen Kosten sitzen zu bleiben. Über 300 Millionen Euro haben sie angeblich bereits in die nötige Speichertechnik investiert. Jetzt wollen sie die Kosten von der Regierung erstattet bekommen.

Wie reagiert die Politik? SPD, FDP, Linke, Grüne und Datenschützer bejubelten das Urteil als großen Sieg für die Bürgerrechte, Union und Sicherheitsbehörden übten Kritik. „Das ist ein Tag zur Freude“, sagte Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), die selbst zu den Klägern gezählt hatte. Die Regierung werde das weitere Vorgehen gemeinsam mit Brüssel prüfen: „Jetzt ist nicht der Zeitpunkt für nationale Schnellschüsse.“ CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach fürchtet dagegen, dass viele Straftaten wie etwa Kinderpornografie „nicht mehr aufgeklärt werden können“

jox

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