Kevin Kühnert: "Eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten gibt es mit uns nicht"
AZ-Interview mit Kevin Kühnert Der Berliner (33) war von 2017 bis 2021 Juso-Chef und ist seit Dezember 2021 Generalsekretär der SPD.
AZ: Herr Kühnert, vom dritten Entlastungspaket profitieren nun endlich auch Rentnerinnen und Studenten - warum hat man ihnen nicht schon früher eine Energiepauschale zugestanden?
Kevin Kühnert: Die SPD hatte sich bereits im Frühjahr dafür eingesetzt, aber das Volumen des zweiten Entlastungspakets war noch nicht groß genug, um alle Gruppen zu erreichen. Die Koalition hat dieses Versäumnis erkannt, auch die Rückmeldungen aus der Bevölkerung waren hierzu eindeutig. Es ist gut, dass wir unser Versprechen einlösen konnten, diesen Fehler jetzt zu korrigieren.
Warum erhalten Rentner 300 Euro, Studierende und Azubis aber nur 200?
Ich war selbst nicht in den Verhandlungen dabei. Erläutert wurde mir, dass man aufgrund der Tatsache, dass der Heizkostenzuschuss bereits an die Bafög-Empfänger ausgegeben wurde - was beileibe nicht alle Studierenden sind - versucht hat, im Durchschnitt möglichst nah an eine finanzielle Gleichbehandlung aller Gruppen zu kommen.
Wird dieses Entlastungspaket das letzte sein - oder muss im Frühjahr das nächste geschnürt werden?
Unser Versprechen ist, dass niemand allein gelassen wird. Das gilt nicht für ein paar Monate, sondern ist unser Prinzip in dieser ganzen Krise. Das Ziel unseres Handelns ist, dass wir bei der Energieversorgung einseitige Abhängigkeiten schleunigst beenden, beispielsweise von russischem Gas. Und es wird uns noch etwa die nächsten zwei Winter Zeit kosten, dieses Ziel zu erreichen. In diesem gesamten Zeitrahmen werden immer wieder politische Kraftanstrengungen notwendig sein. Ich spekuliere nicht über weitere Pakete und konkrete Summen. Wichtig ist, dass alle wissen: Wir haben Ausdauer.
"Eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten gibt es mit uns nicht"
Sehen Sie den "heißen Herbst" zu dem Linke, AfD und andere aufrufen, nun abgewendet?
Dieses Paket beantwortet trotz seiner Größe natürlich nicht in jedem Einzelfall jede einzelne Problemlage und dann noch auf zwei Jahre hinaus. Das behauptet auch niemand. Aber unsere Messlatte ist nicht, dass die Parteispitze der Linken oder irgendeine seit Jahren bereits radikalisierte Protestgruppe zufrieden ist. Wir wollen, dass die betroffenen Menschen merken, dass wir alles für ihre Entlastung tun. Und ehrlich gesagt: Manche, die jetzt vor einem "heißen Herbst" warnen, wollen ihn doch eigentlich, um sich mal wieder auf der politischen Bühne zurückzumelden. Das ist unanständig, weil hier auf dem Rücken von Menschen in Existenznot eine Kampagne aufgebaut wird.
Ulrich Schneider, der Präsident des Paritätischen, bemängelt, dass der Hartz-IV-Regelsatz erst im Januar 2023 auf 500 Euro angehoben werden soll. "Dass die Ärmsten bis dahin gar nichts kriegen, geht gar nicht", sagt er.
Wenn man die einzelnen Pakete immer nur für sich betrachtet, findet man natürlich andauernd Ungerechtigkeiten - man sieht aber nicht das ganze Bild. Zur Wahrheit gehört ja auch, die Menschen im ALG-II-Bezug haben im Juli eine 200-Euro-Direktzahlung bekommen und wir zahlen fortwährend 20 Euro monatlich für jedes Kind, das in einer Grundsicherungsfamilie lebt - und zwar so lange, bis wir die Kindergrundsicherung haben. Viele der betroffenen Haushalte haben zudem massiv vom 9-Euro-Ticket profitiert. Und trotzdem ist mir natürlich bewusst, dass das für die Betroffenen eine ganz harte Zeit ist.
Naturschützer werfen Ihnen vor, den Klimaschutz verraten zu haben, weil die Anhebung des CO2-Preises um ein Jahr verschoben wurde.
Das finde ich wirklich Quatsch und es macht mich auch wütend. Der CO2-Preis wurde eingeführt, um eine Lenkungswirkung zu erzeugen. Er sollte bei Kauf- und Investitionsentscheidungen dazu führen, dass die Menschen die klimaschonendere Variante wählen. So weit, so klug. Aber die Notwendigkeit zum politisch erzeugten Preissignal entfällt ja in dem Moment, in dem die fossilen Energieträger, vor allem Gas, preislich von allein durch die Decke gehen. Fast alle in Deutschland wissen, dass sie sparen müssen - das muss den Leuten nicht die Regierung sagen, das sagt denen ihr Kontoauszug. Kein Mensch braucht bei den aktuellen Energiepreisen noch einen pädagogischen Schubser der Politik in Form von ein oder zwei Cent mehr pro Kilowattstunde, das wäre grotesk.
"Die Privathaushalte werden einen Grundbedarf zu einem vergünstigten Preis bekommen"
Wie soll der Strompreisdeckel funktionieren?
Entscheidend ist: Die Privathaushalte werden einen Grundbedarf zu einem vergünstigten Preis bekommen. Das finanzieren wir durch die Abschöpfung von Zufallsgewinnen. Nur der Verbrauch darüber hinaus wird dann zu regulären Marktpreisen abgenommen werden müssen. Der genaue Mechanismus wird jetzt in der Bundesregierung ausgearbeitet.
Warum kommt nicht auch ein Gaspreisdeckel?
Das ist unser erklärtes Ziel, aber das ist ein kompliziertes Unterfangen. Der Markt ist ganz anders strukturiert als beim Strom, Gewinnabschöpfungen sind nicht so einfach möglich. Aber wir als SPD bekennen uns dazu: Wenn wir es rechtlich hinkriegen, folgt auf den Strompreis- der Gaspreisdeckel. Deswegen nimmt sich jetzt unmittelbar eine Expertenkommission des Themas an und macht Vorschläge zur Umsetzbarkeit.
Einige Energiekonzerne haben von der Krise massiv profitiert. Bisher war von Übergewinnen die Rede. Warum heißen die jetzt Zufallsgewinne?
Weil der Begriff verdeutlicht, warum wir so ein Problem mit diesen Gewinnen haben. Sie basieren nicht auf einer erbrachten Leistung, einer Investition, einer Forschungsanstrengung oder Ähnlichem, sondern sie sind dem Zufall ausgesetzt. Biontech etwa hat nicht zufällig hohe Gewinne, sondern weil das Unternehmen jahrelang Grundlagenforschung geleistet und wichtige Impfstoffe entwickelt hat. Ein Kohlestromproduzent allerdings, der davon profitiert, dass durch den hohen Strom-aus-Gas-Preis auch sein Kohlestrom teurer wird, ohne dass er dafür etwas tun muss, erzielt einen exorbitanten Zufallsgewinn. Und den möchten wir abschöpfen, um die Zufallsverluste, die ganz viele Haushalte derzeit schuldlos erleiden, auszugleichen.
"Ökostrom in Deutschland heute erfreulicherweise schon sehr günstig"
Davon sind insbesondere die Ökostrom-Anbieter betroffen.
Weil Ökostrom in Deutschland heute erfreulicherweise schon sehr günstig ist, was uns freuen sollte. Deshalb sind die Zufallsgewinne hier auch am höchsten. Aber wir schöpfen diese ja nicht so ab, dass das Unternehmen in den Ruin getrieben wird. Wir nehmen leistungslose Gewinnmargen weg, die die Konzerne gar nicht brauchen, um ihre Produktion am Laufen zu halten oder ihre Anlagen auszubauen. Es ist doch so, dass nach dem Merit-Order-Prinzip der teuerste Strom, der in unseren Strommix einfließt, den Gesamtpreis bestimmt. Dieser teuerste Strom ist seit Monaten der Strom aus Gas. Er ist um ein Vielvielvielfaches teurer als Öko-, Kohle- oder Atomstrom. Manche in den Chefetagen dieser Unternehmen konnten ihr Glück in den letzten Monaten kaum fassen - und wir finden, es war jetzt genug des Glücks.
Wann werden diese Maßnahmen greifen?
Das muss jetzt richtig zügig gehen. Jeder Tag früher hilft. Die hohen Preise sind ja längst da. Deshalb haben wir vereinbart, dass wir die Abschöpfung der Zufallsgewinne gerne europäisch lösen wollen, und es laufen auch längst Gespräche. Wir bewegen uns im Energiesektor schließlich auf europäischen Märkten. Es geht um Netze, die grenzüberspannend funktionieren. Daher wäre es sinnvoll, zu einer Harmonisierung der Maßnahmen zu kommen. Aber sollte sich zeigen, dass das zu lange dauert, machen wir es zunächst national, damit die Verbraucher nicht die Gelackmeierten sind.
"Die CSU-Regierung steht vor den Trümmern ihrer Kurzsichtigkeit"
Wie viele der 22 Stunden, die verhandelt wurden, haben Sie benötigt, um die FDP von Strompreisdeckel und Abschöpfung der Zufallsgewinne zu überzeugen?
Ich glaube, auch die FDP hat am Ende erkannt, dass hier grundlegende Gerechtigkeitsgefühle in breiten Teilen der Bevölkerung berührt sind. Ich habe den liberalen Gedanken immer so verstanden, dass es um Leistungsgerechtigkeit geht. Insofern glaube ich, dass die Liberalen ihren Leuten gut erklären können, dass jemand, der nicht mehr leistet, aber unendlich mehr kriegt, gegen eine Grundregel der Sozialen Marktwirtschaft verstoßen hat und dass es deswegen nicht nur legitim, sondern geradezu geboten ist, dass der Staat hier agiert. Aber sicherlich war das Thema ein Dreh- und Angelpunkt der Verhandlungen. Die Krise, in der wir sind, ist eine energiepreisgetriebene Krise, alles andere verkettet sich dahinter. Die Gretchenfrage ist, wie man nachhaltig sowohl für Bezahlbarkeit als auch für Versorgungssicherheit sorgen kann.
Wird die Abschöpfung der Zufallsgewinne ausreichen, um das 65-Milliarden-Euro-Paket zu finanzieren?
Die Abschöpfung der Zufallsgewinne finanziert vor allem den Strompreisdeckel, also die preisliche Dämpfung beim Grundbedarf. Erste Schätzungen ergeben, dass diese Maßnahme allein im Stromsektor hohe zweistellige Milliardenbeträge bringen wird. Die sind auch nötig, weil wir nicht nur über Privathaushalte, sondern auch über kleinere Betriebe sprechen. Andere Maßnahmen werden aus den allgemeinen Haushaltsmitteln heraus finanziert.
"Wir werden unsere Handlungsfähigkeit wahren"
Und trotzdem wird die Schuldenbremse nächstes Jahr eingehalten?
Das ist, was die Ampel sich vorgenommen hat. Solange die Entlastungspakete mit dieser Vorgabe übereinzubringen sind: Super, dann machen wir das so! Klar ist aber auch, die Unterstützung der Bundesregierung und die Solidarität mit denjenigen, die Hilfe brauchen, endet für die SPD nicht bei der erstbesten Schwierigkeit. Wir werden unsere Handlungsfähigkeit wahren, darauf können sich alle verlassen.
CDU-Chef Friedrich Merz befürchtet, ohne die drei verbliebenen AKW stehe Deutschland im Winter ein Blackout bevor, wenn viele Menschen anstatt mit Gas mit Strom heizen.
Die Bundesregierung hat das ja zurecht wissenschaftlich untersuchen lassen, um unter Annahme strengster Kriterien zu prüfen, ob ein Streckbetrieb in das kommende Jahr hinein nötig ist. Das Ergebnis ist nun, dass zwei Kraftwerke kurzfristig in der Reserve bleiben. Das zeigt, dass wir in der Ampel die Frage der Versorgungssicherheit auf Basis von Fakten ganz pragmatisch beantworten. Eine Laufzeitverlängerung oder gar den Bau neuer Atomkraftwerke - wie von (Andreas, d. Red) Scheuer und anderen gefordert - gibt es mit uns nicht. Die eigentliche Aufgabe ist doch, dass wir beim Ausbau der Erneuerbaren Energien vorankommen. Da können ja manche Bundesländer durchaus noch ein bisschen dazu beitragen.
"Die Leute, die uns wählen, wollen, dass es am Ende einer Krise für sie gut ausgegangen ist"
Sie meinen Bayern?
Ja, wir bestaunen hier ein jahrzehntelang aufgestautes Energiedesaster von CSU-geführten Landesregierungen, die gegen Windkraft agitiert haben, gegen den Leitungsausbau - und sich jetzt genau wie Herr Merz hinstellen und vor einem Blackout warnen. Die stehen vor den Trümmern ihrer eigenen politischen Kurzsichtigkeit und versuchen nun so zu tun, als gäbe es irgendeine Bayern-Feindlichkeit in Berlin. Aber diese potenzielle Versorgungsunsicherheit hat nicht Berlin, nicht die SPD, nicht Herr Lindner oder Herr Habeck herbeigeführt, sondern Leute, die bei jedem Protest in den letzten Jahren dabei waren, aber ihre politische Verantwortung nicht genutzt haben, um die eigentliche Frage zu beantworten. Nämlich, wie ein kluger Interessenausgleich dort aussieht, wo Menschen neue Energieanlagen vor ihre Ortschaften gestellt bekommen.
Wie sehr nervt es Sie, dass Olaf Scholz in Sachen Beliebtheit laut Spiegel-Regierungsmonitor hinter Robert Habeck und Friedrich Merz rangiert?
Das lag er im Wahlkampf letztes Jahr auch ganz lange - und am Ende hat er gewonnen. Die Leute, die uns wählen, wollen, dass es am Ende einer Krise für sie gut ausgegangen ist, dass sie sagen können: Das hat der Scholz mit seiner Truppe gut hinbekommen. Jetzt sind wir aber nicht am Ende der Krise, sondern mittendrin. Dass die Leute jetzt keine Präsentkörbe an unseren Geschäftsstellen ablegen, ist sehr naheliegend und ganz normal.
"Wir müssen das gemeinsam hinkriegen"
Es gibt den Vorwurf, Kanzler Scholz wäre zu sehr Moderator der Koalition als Führungsfigur der Regierung.
Diese Koalition ist kein selbstverständliches Gebilde. Es ist die erste Ampel-Koalition im Bund und es bedarf einer großen Erfahrung, diese Koalition zu führen. Zumal wir jetzt mit Fragen konfrontiert sind, die sich noch nicht gestellt haben, als wir den Koalitionsvertrag verhandelt haben. Wir verhandeln aktuell bei laufendem Betrieb jeden Tag Fragen von unglaublicher Dimension. Wenn es da keinen mehr gibt, bei dem die Fäden zusammenlaufen, sondern jeder nur als Parteipolitiker unterwegs ist, wird kein gutes Ganzes draus. Und das ist eben sein Job.
Wie groß sind die Spannungen in der Ampel wirklich? Zuletzt warf SPD-Chef Lars Klingbeil Wirtschaftsminister Robert Habeck handwerkliche Fehler bei der Gasumlage vor, Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz warf dem Kanzler "schlechte Performance" vor.
Eine gewisse Grundanspannung ist ganz normal, begründet durch die allgemeine Lage. Wer jetzt von morgens bis abends fröhlich und fidel ist, hat irgendwie nicht gecheckt, was los ist. Die genannten Beispiele gehören in der Politik mal dazu, sollten aber nicht andauernd stattfinden. Bei der Gasumlage sind Fehler passiert. Robert Habeck hat angekündigt, sie zu korrigieren, wunderbar. Probleme müssen angesprochen werden, aber wir lösen sie konstruktiv und gemeinsam. Das ist die Koalitions- und Schicksalsgemeinschaft in diesen Zeiten: Wir müssen das zusammen hinkriegen, und entweder sind wir am Ende in den Augen der Deutschen alle schlechte Krisenmanager gewesen, oder die Koalition wuppt das gemeinsam. Ich bin für das zweite.
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