Karsten Fischer: "Vernunft und Aufrichtigkeit sind die Opfer"

Der 49-jährige gebürtige Rheinländer Karsten Fischer ist Professor für Politische Theorie am Institut für Politikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die AZ hat mit ihm gesprochen.
AZ: Herr Professor Fischer, auch wenn Geert Wilders die Wahl nicht gewinnen konnte – das Erstarken rechter Populisten, gerade in den Niederlanden und auch hier in Deutschland, ist erstaunlich. Es handelt sich um zwei Länder, in denen es den Menschen so gut geht wie vielleicht noch nie in ihrer Geschichte. Geht der europäische Esel gerade aufs Eis, da es ihm zu wohl wird?
KARSTEN FISCHER: Gute Frage, das ist tatsächlich eine sehr irritierende Entwicklung. Bisher ist man immer davon ausgegangen, dass Populismus und Extremismus attraktiv sind für gescheiterte, heimatlose, autoritäre Persönlichkeiten. Aus sozioökonomischer Sicht trifft das heute nicht zu, aber es gibt zwei andere Gründe. Zum einen gibt es ein gefühltes Abstiegsszenario: Mittelschichten radikalisieren sich, obwohl es ihnen objektiv gar nicht schlechter geht. Zum anderen gibt es immer mehr Menschen, die sich von den Zumutungen der Globalisierung und der modernen, pluralistischen Gesellschaft überfordert fühlen. Sie haben rückwärtsgewandte Bedürfnisse nach einer abgeschotteten Heimat und einer völkischen Identität.
Wenn wir noch einmal in unser Nachbarland Niederlande blicken: Hat Wilders von der Eskalation im Verhältnis zur Türkei profitiert? Oder anders gefragt: Gibt es so etwas wie eine Internationale der Populisten, die sich gegenseitig als Steigbügelhalter betätigen?
Für diese Vermutung gibt es einen sehr guten Indikator. Der Populismus praktiziert tatsächlich eine neue Internationale der Nationalismen. Alle Populisten können sich treffen und sagen: Frankreich zuerst, Niederlande zuerst, Türkei zuerst, Polen zuerst und so weiter. Das ist eine historisch seltsame und in sich widersprüchliche Entwicklung, aber der Populismus steckt voller Widersprüche, mit denen er überhaupt kein Problem hat. Er wirft der Presse vor, sie sei eine Lügenpresse, schafft aber selber sogenannte alternative Fakten, also Lügen. Den Massenmedien wird Verleumdung vorgeworfen, obwohl der Populismus in ihnen geradezu ein Aufmerksamkeitsprivileg genießt. Er kritisiert Eliten, besteht aber aus Eliten, bis ins Absurde gesteigert im Falle des Milliardärs Trump, der Interessenvertreter des unterrepräsentierten Volkes sein will.
Wie bewerten Sie die Wahlen in den Niederlanden? Hat sich Europa von der populistischen Bedrohung befreit?
Es ist ein zweiter Etappensieg nach den Präsidentschaftswahlen in Österreich. Wenn der Populismus auch noch seine nächste Chance, Frankreich, verlieren sollte, dann darf man optimistisch sein, dass dieses Gespenst aus der Vergangenheit wieder verschwinden und Europa beweisen wird, dass es aus der jüngsten Entwicklung in den USA gelernt hat und ein Vorbild für deren Rückkehr in die Reihe der freiheitlich-rechtsstaatlichen, offenen Gesellschaften sein kann.
Ist der Populismus Ihrer Meinung nach ein in gewissen Zyklen immer wieder neu auftretendes Phänomen?
Betrachtet man die Deutschen, könnte man das glauben. Die Deutschen wurden von antisemitischen Rassisten zu humanistischen, kosmopolitischen Idealbürgern. Jetzt scheint Überholtes teilweise wiederzukehren. Wissenschaftlich ist es jedoch unmöglich, daraus eine allgemeingültige Regelmäßigkeit abzuleiten.
Sie glauben also nicht an eine quasi "genetische" Prädisposition der Deutschen, was die Anfälligkeit für die Verlockungen der Populisten betrifft?
Nein, ich glaube, der Philosoph Theodor W. Adorno hat Recht, wenn er sagt, dass die Deutschen das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte begangen haben, eine Rückführung auf die Mentalität der Deutschen aber einer Verharmlosung gleich käme. Denn damit würde man die nicht genetischen, sondern vielschichtigen Ursachen verkennen und ausschließen, dass so etwas jemals wieder stattfinden könnte, auch andernorts. Davor hat Adorno gewarnt. Und diese Warnung ist höchst aktuell.
"Verschwörungstheorie pflege ich am Beispiel Guardiola zu erklären"
Andere Frage: Wenn man heute über Populisten spricht, dann reicht das Spektrum ja von Petry bis Putin. Wilders, Le Pen, Trump, Erdogan, Farage – die Liste ließe sich fortsetzen. So unterschiedlich diese Politiker alle sind, gibt es ein verbindendes Element?
Man sollte sich zwar vor Verallgemeinerungen hüten, aber einzelne Muster sind erstaunlich wiederkehrend. Hier ist vor allem die Dominanz von Verschwörungstheorien zu nennen. Wie sich solche basteln lassen, pflege ich am Beispiel von Pep Guardiola zu erklären: Nachdem der FC Bayern München 2013 unter Heynckes den FC Barcelona vernichtend geschlagen und die Champions League gewonnen hatte, wurde Guardiola Trainer des FC Bayern, um ihn zu schwächen. Das ist ihm auch gelungen, denn nach einem Sieg gegen die Bayern konnte Barcelona 2015 die Champions League erneut gewinnen. Ein Jahr später verließ Guardiola den FC Bayern, um Barcelona nun durch Schwächung des aufstrebenden, englischen Vereins Manchester City zu helfen, bei dem bereits alte Vertraute arbeiten. Das ist natürlich purer Blödsinn, genauso wie die jüdische Weltverschwörung, der Hexenwahn oder das populistische Elitenmisstrauen. Aber es funktioniert, weil man eine Abfolge tatsächlicher Ereignisse mit keineswegs zwingenden Verknüpfungen und unbeweisbaren Behauptungen verbindet. Und wer dagegen argumentiert, wird dann sofort zum Teil der Verschwörung erklärt. Das ist perfide und macht es schwer, rational dagegen zu argumentieren. Die ersten Opfer des Populismus sind Vernunft und Aufrichtigkeit.
Da schließt sich die Frage an: Wie gefährlich sind Populisten aktuell – geht von ihnen gar eine Kriegsgefahr aus, sind sie für die Demokratie gefährlich, für unseren Lebensstil?
Ich halte die Gefahr für sehr groß, und zwar auf allen diesen angesprochenen Ebenen. Eine akute Kriegsgefahr sehe ich zwar – zum Glück – nicht, auch wenn man die Entwicklungen in der Türkei nur mit größter Sorge betrachten kann. Aber es gibt eine andere sicherheitspolitische Bedrohung: Die populistischen Hassprediger sind nämlich die nützlichen Idioten des islamistischen Terrorismus, indem sie deren manichäisches Geschäft besinnungslos betreiben. Schließlich funktioniert der islamistische Terrorismus genauso wie der Linksterrorismus des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Es wird versucht, antiliberale Entwicklungen in den westlichen Demokratien zu provozieren. Entwickeln wir uns also so, wie es die Terroristen erwarten, wie sie uns in ihrem Zerrbild sehen, dann geben wir ihnen ihr Lebenselixier. Das tun die Populisten. Vor diesem Hintergrund ist der Verzicht auf solchen Hass nicht etwa eine humanistische Tugend, sondern schlichtweg rationales politisches Eigeninteresse.
Glauben Sie wirklich, ein solches Verhalten würde uns von der Geißel des islamistischen Terrorismus befreien?
Die historische Erfahrung hat gelehrt, dass man den Terrorismus am nachhaltigsten bekämpft, indem man seine Quelle austrocknet, und das ist ein sich wechselseitig verstärkender Hass. In diesem Zusammenhang muss man natürlich auch erwähnen, dass es skrupellose Populisten gibt, die gleichsam auf der Blutspur des Terrorismus den Weg an die politische Macht suchen. Anders ist es jedenfalls nicht erklärlich, warum die französische Präsidentschaftskandidatin Le Pen rechtswidrig islamistische Gräuelbilder verbreitet.
Sind die Menschen Ihrer Meinung nach bereit, den von Ihnen beschriebenen Weg der Vernunft zu gehen – oder ist es eventuell sogar zu spät dafür?
Zu spät ist es auf keinen Fall. Trump hat ja nicht die Mehrheit des amerikanischen Volkes hinter sich, er hat nicht die berühmte "Popular Vote" gewonnen, in Frankreich ist der Sieg von Marine Le Pen unwahrscheinlich, und in Deutschland sinken die Umfragewerte der AfD. Insofern ist der Kampf für den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat und die offene Gesellschaft alles andere als verloren, aber wir müssen die Bedrohung weiterhin genau analysieren.
"Demokratie bedeutet Schutz der Schwachen, Stillen und Stummen"
Nochmal zurück zur Frage nach der Gefahr für Demokratie und Lebensstil durch den Populismus, bitte.
Der Populismus bietet auch eine Chance, nämlich die, dass wir uns wieder Rechenschaft darüber ablegen, was Demokratie eigentlich bedeutet: Sie bedeutet ja gerade nicht, dass die Mehrheit einfach recht hat. Demokratie bedeutet auch den Schutz der Schwachen, der Stillen und Stummen, der Minderheit. Andernfalls hätte es gar keinen Sinn, dass die Demokratie Mehrheitsverhältnisse immer nur auf Zeit feststellt.
Der letzte Teil der Frage betraf den Lebensstil. Wenn Sie eine Prognose wagen müssten, was Wissenschaftler ungern tun, wie leben wir in zehn Jahren?
Es besteht begründete Hoffnung, dass sich nicht sehr viel ändern wird. Wir erfreuen uns seit dem Zweiten Weltkrieg der längsten Friedensphase in der Geschichte Europas. Das hat bestimmte strukturelle Ursachen: die Schaffung der Europäischen Union, die wirtschaftlichen und sozialen Erfolge und eine bestimmte Bewusstseinsentwicklung in den Gesellschaften. Das alles wird nicht von heute auf morgen zu beschädigen sein, zumal es ja nur Minderheiten versuchen. Wir müssen uns aber darüber klar werden, wie wir leben wollen: Wollen wir eine Gesellschaft, die sich wieder ethnisch und religiös sortiert und bestimmt? Das wäre in der Moderne nicht mehr möglich ohne Konflikte und Wohlstandseinbußen. Oder wollen wir eine offene, optimistisch auf die Zukunft gerichtete Gesellschaft bleiben? Wenn man diese Alternativen erklärt und irrationale Hassdiskurse vermeidet, dürften alle Probleme lösbar sein.
Glauben Sie, dass unsere Spitzenpolitiker genug tun, um den Menschen dieses Rezept gegen Populismus zu verdeutlichen? Oder wird hier aufklärerisch zu wenig betrieben?
Unsere Politiker sind viel besser als ihr Ruf, und sie sind enorm gutwillig, aber wenn zum Beispiel der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz teilweise in die Elitenkritik einstimmt und glaubt, dadurch Stimmen gewinnen zu können, dass er das einfache Volk preist und die Experten verspottet, dann ist das langfristig eine gefährliche Strategie.
Sie haben Martin Schulz erwähnt – bedient sich nicht etwa auch die CSU populistischer Argumente?
Die CSU ist, genauso wie die SPD, keine populistische Partei. Aber sie neigt zu demselben Fehler. Es war völlig unverständlich und überflüssig, dass die CSU in der sogenannten Flüchtlingskrise geglaubt hat, eine pessimistische Stimmung bedienen zu sollen. Bayern ist so gut mit dem Flüchtlingsmanagement zurechtgekommen wie kein anderes Bundesland. Aber statt diese herausragende Leistung zu betonen, wurde ohne Not eine trübe Übellaunigkeit demonstriert.
Letzte Frage: Woher stammt Ihre Faszination für das Thema Populismus?
Das verdanke ich einer staatsbürgerlichen Besorgnis angesichts der Entwicklungen in der westlichen Welt, die man so ja nicht für möglichen halten konnte, wenn man die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts betrachtet.
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