Karl Lauterbach im AZ-Interview: "Die Lage ist nicht wirklich erträglich"

AZ-Interview mit Karl Lauterbach: Der 57-jährige SPD-Politiker studierte in Düsseldorf Medizin und an der Elite-Universität Harvard in den USA Gesundheitsökonomie und Epidemiologie. Seit 2005 ist er Mitglied des Bundestags.
AZ: Herr Professor Lauterbach, schlafen Sie eigentlich noch? Und wenn ja, wie viel?
KARL LAUTERBACH: Ich schlafe ausreichend, aber nicht viel mehr. Patienten würde ich jedenfalls empfehlen, etwas länger zu schlafen.
Die wichtigste Frage aus bayerischer Sicht: Was halten Sie von Markus Söders FFP2-Maskenpflicht, die jetzt greift?
Ich finde das richtig und habe das schon begrüßt. Die FFP2-Masken, das muss man deutlich sagen, sind wesentlich besser als Alltagsmasken. Und wenn Masken getragen werden müssen, dann sind FFP2-Masken die zu empfehlenden Masken. Voraussetzung ist natürlich, dass diese Masken auch verfügbar sein müssen. Die Einkommensschwächeren müssen entsprechend bezuschusst werden. Ansonsten finde ich eine solche Pflicht zielführend und stimme ihr zu.
Ihr Virologen-Kollege Andreas Podbielski von der Universität Rostock sagte in der AZ, dass er Söders Vorschlag für "Populismus und Blödsinn" hält. Das Robert-Koch-Institut warnt gar vor FFP2-Masken. Wer hat recht?
Ich will die Kommentare von anderen Wissenschaftlern oder vom Robert-Koch-Institut nicht bewerten. Ich kann nur meine Position vertreten und die ist in der neuesten Studienlage verankert. Mehr habe ich dazu nicht beizutragen.
Die Vorpresch-Rhetorik und -Methodik von Markus Söder wird häufig kritisiert. Sie sind selbst ein Mann der klaren Worte - was halten Sie von dem Corona-Krisenmanagement von Markus Söder?
Ich gebe niemandem Noten. Ich möchte niemanden bewerten.
Abstrakter gefragt: Sie selbst gelten als Anhänger einer harten, einer rigiden Linie, wenn es um die Corona-Bekämpfung geht. Das ist doch richtig?
Es kommt darauf, was angesprochen ist. Ich habe zum Beispiel sehr früh darauf hingewiesen, dass wir erfolgreiche Impfungen haben werden. Ich gehe ich von einer rapiden Entlastung im Sommer aus, was auch mit der Optimierung der Impfungen einhergeht. Aber es gibt manchmal Regelungen, die ich nicht sinnvoll finde, was ich dann auch sage. Das Beherbergungsverbot, das sie gemacht haben, das habe ich damals kritisiert. Wenn es die Studienlage verlangt, dann versuche ich schon, klar zu artikulieren, wo die Gefahren liegen. Aber ich empfinde mich selbst nicht als besonders hart, sondern ich gebe auch immer Vorschläge, was man machen kann. Ich nehme für mich in Anspruch, dass ich nie ein Problem benenne, ohne gleichzeitig einen Lösungsvorschlag zu machen.
Die unterschiedlichen Ansichten von Virologen verwirren die Menschen in diesen Zeiten. Haben Sie einen Tipp, wem man vertrauen kann - oder ist es wie in der Politik, in der einfach unterschiedliche Meinungen vorherrschen?
In jeder Wissenschaft gibt es Meinungsunterschiede. Die betroffenen Leute haben unterschiedliche Qualifikationen und unterschiedliches Wissen. Aber die Politik und die Öffentlichkeiten machen sich ein gutes Bild mittlerweile, wer die zuverlässigen Beiträge liefert - und wessen Beiträge vielleicht etwas weniger zuverlässig sind. Ich glaube, dass die kritische Zivilgesellschaft, die Verantwortungsträger in Kommunen und Wirtschaft, genauso wie die Politik sehr gut einschätzen können, ob eine Aussage wissenschaftlich fundiert ist oder nicht. Da trägt auch der Wissenschaftsjournalismus seinen Teil dazu bei, der sich in Deutschland im Moment in einer Blütezeit befindet.
Also lautet Ihr Ratschlag an die Bürger, sich möglichst breit zu informieren?
Genau. Man kann sich zu jeder Frage ein gutes Bild machen. Ein solches Angebot, das habe ich in dieser Form noch nie erlebt. Es wäre wunderbar, wenn wir eine solche Qualität in Zukunft auch beim Klimaschutz- und beim Umweltjournalismus erreichen könnten.
Morgen ist wieder Ministerpräsidentenkonferenz - wären Sie gerne dabei?
Mit den betroffenen Akteuren befinde ich mich in sehr engem und guten Austausch. Von daher fehlt mir nichts, wenn ich an einer Ministerpräsidentenkonferenz nicht teilnehme, weil ich ja auch kein Ministerpräsident bin.
Was erhoffen Sie sich und was erwarten Sie von den Beschlüssen?
Es muss im Vorfeld der Ministerpräsidentenkonferenz eine Grundsatzentscheidung getroffen werden, ob wir den Lockdown verschärfen und somit verkürzen wollen, also übergehen wollen in einen sehr harten, aber kurzen Lockdown. Oder ob wir den Lockdown mit kleineren Verschärfungen ungefähr so weiterführen wollen, wie wir ihn jetzt haben. Dann müssen wir uns auf eine lange Strecke von sechs bis acht Wochen einstellen.
Karl Lauterbach: "Wir haben uns bei der Sequenzierung auf die anderen verlassen"
Wenn Sie entscheiden könnten - was müsste passieren, damit die Lage in Deutschland wieder einigermaßen beherrschbar wird?
Ich persönlich befürworte ganz klar den großen, härteren Lockdown. Der hätte auch zur Folge, dass es teilweise zu Betriebsschließungen käme, dass die Schulen geschlossen bleiben bis auf die Notbetreuung in Berufen mit Systemrelevanz. Alles, um die Kontaktzahlen noch sehr viel stärker herunterzufahren. Dann wären wir auch sehr viel schneller bei der Zielinzidenz. Ich befürworte das schlicht und einfach deshalb, weil ich Sorge habe, dass wir mit dem derzeitigen Lockdown die Zahlen nicht schnell genug drücken können, bevor die neuen Mutationen in Deutschland Fuß fassen.
Die Kanzlerin hält Inzidenzwerte von um die 3.000 für möglich. Mit ihren bisherigen Prognosen hatte sie leider recht. Wie gefährlich sind die neuen Mutationen wirklich?
Ich bin sehr besorgt. Ich vertraue da durchweg den epidemiologischen Studien, die von der Universität Cambridge für England gemacht worden sind. Das sind führende epidemiologische Arbeitsgruppen, die versuchen, mit epidemiologischen Daten die erhöhte Übertragbarkeit der B117-Mutationsstämme zu berechnen. Ähnliche Berechnungen hat es auch in Dänemark für die sich dort ebenfalls abspielende B117-Mutation gegeben. Ich bin überzeugt, dass die Ansteckungswahrscheinlichkeit irgendwo zwischen 40 und 60 Prozent erhöht ist. Das ist fast vergleichbar mit einer neuen Virusart. Selbst wenn die nicht tödlicher ist, würde das bedeuten, dass wir mit den derzeitigen Lockdown-Maßnahmen die Rückkehr ins exponentielle Wachstum zu keinem Zeitpunkt verhindern können und somit im Endeffekt viel mehr Menschen sterben würden.
Dann würden die Krankenhäuser überlaufen?
Genau. Wenn wir diese Variante flächendeckend in Deutschland bekommen sollten, dann wäre innerhalb weniger Wochen eine komplette Überlastung der Intensivstationen zu erwarten. Es würden zwar weniger Pflegebedürftige in den Pflegeheimen an Covid-19 sterben, weil sie bis dahin geimpft sein könnten. Aber: Wir haben jetzt 1.000 bis 1.300 Todesfälle am Tag. Das ist viel zu viel, damit können wir uns nicht abfinden. Und mit der neuen Mutation könnte das so bleiben, nur, dass die Menschen, die sterben, jünger wären. Auch haben wir jeden Tag Zehntausende Menschen, die chronisch krank werden, bei denen wir nicht wissen, wie lange diese Krankheit anhält. Die jetzige Lage ist nicht wirklich erträglich.
Ist es nicht eine Schande, dass wir in Deutschland gar nicht wissen, in welchem Umfang sich die britische und die südafrikanische Variante des Coronavirus schon verbreitet haben, weil wir praktisch keine Sequenzierungen vornehmen, also die DNA des Virus nicht untersuchen?
Das hat nicht ausreichend stattgefunden, das ist richtig. Da wurden Fehler gemacht. Wir haben uns bei der Sequenzierung auf die anderen verlassen (vor allem Großbritannien und Dänemark, d. Red.). Das Problem war in Fachkreisen längst bekannt. Ich habe darüber mit führenden Virologen gesprochen. Das war schlicht und ergreifend nicht finanziert und gefördert worden. Es gab auch keine entsprechende Initiative vom Robert-Koch-Institut. Das muss jetzt nachgeholt werden.
Kann man das in der Kürze der Zeit?
Man kann sehr schnell die Kapazitäten für das Sequenzieren aufbauen, damit ungefähr jede 20. Probe untersucht wird und die Ergebnisse dann ans Robert-Koch-Institut weitergeleitet werden. Das wäre schon einmal eine sehr wichtige Grundlage. Damit kämen wir ein ganzes Stück weiter.
"Auch die Variante B117 lässt sich in den Griff bekommen"
Sie haben davor gewarnt, dass wir aufgrund der Corona-Mutationen eventuell eine ganz neue Pandemie bekommen könnten. Was könnte das für uns im besten Fall bedeuten - und was im schlimmsten?
Im besten Fall kann das bedeuten, dass der Kelch an uns vorübergeht, weil wir den Vorsprung, den wir auf Großbritannien haben, nutzen, um die Ausbreitung der Mutation zu stoppen. Das heißt: Bei einer Inzidenz von unter 25 lassen sich die Fälle verfolgen. Die Mutation käme zwar an, würde uns aber keine Probleme bereiten. Das wäre das beste Szenario.
Und das schlimmste?
Wie ich sagte: Bei bestehendem Lockdown geraten wir wieder ins exponentielle Wachstum. Dann kämen wir in eine sehr schwierige Situation. Deshalb messe ich den nächsten Beschlüssen der Politik eine sehr hohe Bedeutung zu. Die gute Nachricht ist: Auch die Variante B117 lässt sich in den Griff bekommen, das haben Großbritannien und Irland gezeigt. Die schlechte Nachricht ist: Das geht nur durch einen extrem harten Lockdown.
Auch beim Impfen schaut es düster aus. Weil Pfizer sein Werk in Belgien umbaut, bekommt Deutschland jetzt auch noch bis zu 2,6 Millionen Dosen des Biontech/Pfizer-Impfstoffes weniger als geplant. Wer hat hier Fehler gemacht?
Die EU hat mit zu wenig Geld die Impfstoffe eingekauft. Man hat versäumt, redundante Produktionskapazitäten aufzubauen. Dafür hätte man viel mehr Geld in die Hand nehmen müssen. Aber selbst wenn man zehn Mal so viel für die Beschaffung ausgegeben hätte, wäre das noch gut investiertes Geld gewesen. Es ist schade, dass wir die Produktionsanlagen nicht schon überall stehen haben. Aber jetzt muss man nach vorne blicken, darauf hoffen, dass der Impfstoff von Johnson & Johnson erfolgreich ist. Da werden die Ergebnisse der Studie Ende Januar, Anfang Februar bekannt.
Realistisch: Wann bekommen wir Corona in den Griff? Ende des Sommers? In einigen Jahren? Nie?
Ich glaube, im Sommer wird sich vieles entspannen, weil wir dann sehr viel breiter impfen können.
Vorletzte Frage: Was macht Karl Lauterbach, falls die Pandemie irgendwann einmal besiegt sein sollte?
Ich habe immer viel zu tun, ich habe immer interessante Projekte. Darüber mache ich mir keine Gedanken zum jetzigen Zeitpunkt. Ich habe meine Arbeit im Bundestag, ich bin leidenschaftlicher Politiker, ich bin immer ausgefüllt, habe viele Ideen. Deshalb freue ich mich auf die Zeit, wenn die Pandemie vorbei ist.
Und was macht dann TV-Talker Markus Lanz, den Sie im letzten Jahr so häufig wie kein anderer beehrt haben?
Ich bin ganz sicher, dass ich Markus Lanz auch dann noch das eine oder andere Mal sehen werde. Und ich glaube, für Markus Lanz gilt das Gleiche wie für mich: Uns wird nie langweilig.