Julian Nida-Rümelin: "Jetzt mal verbal abrüsten!"

AZ: Herr Professor Nida-Rümelin, sind Sie enttäuscht vom Impfgipfel der Kanzlerin und Ministerpräsidenten am Montag? Abgesehen vom Ende der Priorisierung bis Juni kam nur Wachsweiches heraus. Oder war es die "MPK der Hoffnung", wie Markus Söder vollmundig verkündet hat?
JULIAN NIDA-RÜMELIN: Es gab zwar auch Ratlosigkeit, aber die Stimmen in der Politik werden doch vernehmbarer, die eine Strategie fordern, die aus dem aktuellen Lockdown herausführt, damit die Bevölkerung weiß, was genau sie unter welchen Bedingungen erwartet. Das ist das, was ich immer kritisiert habe: Wir haben zwar mehr oder weniger gut nachvollziehbare Maßnahmen, aber die Kriterien, nach denen sie ergriffen und gegebenenfalls wieder beendet werden, die sind zu unklar geblieben.
Von Israel, den USA oder Großbritannien gar nicht zu sprechen, aber selbst unser kleiner Nachbar Österreich plant schon zum 19. Mai umfangreiche Öffnungen - warum nicht auch Deutschland?
Ich halte nichts davon, bestimmte Daten zu nennen. Das hängt von der Entwicklung ab. Viel vernünftiger ist es, Kriterien zu benennen. Die Ministerpräsidentin von Dänemark, Mette Frederiksen, hat ein solches sehr kühnes Kriterium genannt: Wenn alle über 50-Jährigen und alle durch Erkrankungen Vorbelasteten ein Impfangebot erhalten haben, wird es in dem Land keine Lockdown-Maßnahmen mehr geben. Das ist eine klare Botschaft. Und sie hat hinzugefügt, dass das wahrscheinlich schon Ende Mai der Fall sein wird. Wenn wir das gleiche Kriterium für Deutschland anlegen würden, wären wir nicht so schnell, aber es wäre absehbar. In die Impfkampagne kommt jetzt eine gewaltige Dynamik.
Sollte es Vorteile für Geimpfte geben?
Müsste man nicht schon jetzt weitreichendere Erleichterungen für Geimpfte, Genesene und auch Getestete beschließen? Ein Sommer ohne Hoffnung für große Teile der Bevölkerung ist doch nur noch schwer vermittelbar.
Wir können uns auf keinen Fall leisten, den Lockdown bis in den Herbst oder gar bis ins erste Quartal des nächsten Jahres zu verlängern. Wenn man als Kriterium Herdenimmunität formuliert, kann sich das noch sehr lange hinziehen. Unter den jetzigen Bedingungen mit der britischen Mutante müssten circa 80 Prozent der Bevölkerung immunisiert sein, gleichzeitig dürfen die unter 16-Jährigen nicht geimpft werden. Es gibt immer noch viel Impfskepsis. Da rückt Herdenimmunität in weite, wenn nicht unerreichbare Ferne. Deshalb plädiere ich nachdrücklich dafür, dass man dieses Ziel zwar nicht aufgibt - es wäre schön, wenn wir es irgendwann erreichen würden -, aber davon das Aufrechterhalten von Lockdown-Maßnahmen nicht abhängig macht, sondern von der Morbidität (wie viele Menschen müssen in die Klinik, gar auf Intensivstationen, d. Red.) und der Mortalität (wie viele Menschen sterben durch Covid-19, d. Red.).
Wenn wir ehrlich zu uns sind, müssten wir uns eingestehen, dass es eine coronafreie Welt nicht geben wird, zumindest nicht so schnell. Oder?
Ja, auch deshalb, weil wir auf Dauer unsere Grenzen nicht werden schließen können. Die Einreise aus Indien ist zur Zeit sehr restringiert wegen der dortigen Virusvariante, von der man auch noch nicht genau weiß, wie sie einzuschätzen ist. Auf Dauer können wir als eine der größten Wirtschaften, noch dazu eine der exportorientiertesten, nicht mit geschlossenen Grenzen leben. Das spricht auch gegen Zero-Covid-Perspektiven.
Diskussion über die #allesdichtmachen-Aktion
Ein harter Schnitt: Gerade hat die Social-Media-Aktion #allesdichtmachen für eine Welle der Empörung quer durch die Republik gesorgt. Kunst oder AfD-Propaganda?
Mir hat die Auseinandersetzung um diese Aktion überhaupt nicht gefallen. Ich habe mir zwar nicht alle Videos angesehen, aber meiner Meinung nach sind das mehr oder weniger überzeugende Ironisierungen der Situation. Der Hintergrund ist eine Existenzkrise von Künstlern.

Aber nicht zwangsläufig von denen, die an dieser Aktion teilgenommen haben.
Nein. Jan-Josef Liefers ist wahrscheinlich nicht von schweren ökonomischen Existenznöten betroffen, aber er wird die Situation sehr stark mitempfinden, die im Schauspielerbereich gegenwärtig vorherrscht. Ich habe ganz gute Einblicke, denn mein Schwiegervater ist Musikmanager (Dieter Weidenfeld betreute Künstler wie Gilbert Becaud, Adamo, Howard Carpendale, Peter Kraus, d. Red.). In der Branche bricht jetzt alles weg, da entstehen Panikstimmungen. Da sagen die Leute: Schaut mal, wir haben physikalische Gutachten, die zeigen, dass man mit Tests oder entsprechendem Immunitätsnachweis Konzerte sogar ohne Mindestabstand veranstalten kann. Aber es geschieht nichts. Genauso dort, wo man Mindestabstand halten kann - Stichwort Schachbrettmuster -, also Museen, Philharmonien, Opernhäuser, Theater. Ja, warum um Himmels willen macht man das dann nicht?
Gute Frage!
Die Kunst leidet so stark wie fast keine andere Branche, vielleicht abgesehen von Gastronomie und Hotellerie. Dann sagen diese Schauspieler: Jetzt machen wir mal ein bisschen Zoff, worauf wiederum bierernst reagiert wird: Unverschämt, hier wird zynisch mit Menschenleben umgegangen. Diese Reaktion setzt ja voraus, dass ein Hochfahren des Kunstbetriebs zu Todesfällen führen würde. Das ist aber gar nicht gesagt. Deshalb würde ich dringend empfehlen, für die Restlaufzeit der Pandemie verbal abzurüsten. Mehr Toleranz!
Glauben Sie, dass die Nerven der Menschen nach über einem Jahr Corona so stark strapaziert sind, dass diese Aktion aus dem Ruder laufen musste? Und mit ähnlich reflexhaftem Aufschrei auch in anderen Debatten zu rechnen ist?
Ein Blick in die USA zeigt, dass solche Entwicklungen sehr lange anhalten können. Diese Art des geistigen Bürgerkriegs hat in Amerika eine jahre-, wenn nicht jahrzehntelange Vorgeschichte der praktizierten Intoleranz, des Nicht-zuhören-Wollens, der wechselseitigen Beschimpfungen, auch der sogenannten Cancel Culture, aber auch der wüsten ideologischen Tiraden von Rechts, die sich Trump zunutze gemacht hat. Das ist eine ganz gefährliche Gemengelage, die in den USA beinahe zum Ende der Demokratie geführt hätte Anfang dieses Jahres - mit dem Sturm auf das Kapitol und mit den Spielereien des Präsidenten, vielleicht doch noch das Militär einzusetzen, um seinen Verbleib im Amt zu ermöglichen. Jedenfalls gibt es einige Indizien dafür, dass es solche Überlegungen gab. Wir haben allen Grund dazu, uns nicht transatlantisch infizieren zu lassen von diesem Bazillus.
"Wir imitieren Diskurse aus Amerika, die hier nicht herpassen"
Wie kann man sich als Gesellschaft davor schützen?
Wir müssen doch nicht alles nachmachen, was die USA uns kulturell vormachen. Wir imitieren Diskurse, die hier nicht herpassen, weil wir völlig andere soziale, kulturelle, ökonomische Bedingungen haben. Diese Form von Kulturkolonialismus oder -imperialismus, die müssen wir so nicht mitmachen. Wir müssen uns nicht bis in die Wortwahl hinein aus einem anderen Kulturkreis vorschreiben lassen, wie wir hier miteinander umgehen. Aber da gibt es allzu viele, die das, ohne dass es ihnen bewusst ist, betreiben.
Nida-Rümelin über die Öffnung von Kulturstätten
Sie plädierten bereits für eine Öffnung kultureller Einrichtungen. Ist die Zeit dafür tatsächlich schon reif? Oder ist das Risiko, Tizian zu sehen und zu sterben nach einem Besuch der Alten Pinakothek nicht doch noch zu groß?
Wenn Aerosolphysiker sagen, unter den und den Bedingungen gibt es kein Risiko, dann gibt es auch keine Rechtfertigung, entsprechende Einrichtungen geschlossen zu halten. Und die generelle Botschaft aus diesen Analysen kann nur heißen: Geht ins Freie! Nicht: Schließt euch zu Hause ein und trefft euch vielleicht doch heimlich mit Freundinnen, die dann wegen der Ausgangssperre übernachten, um mal ein lebensweltliches Beispiel zu nennen. Wenn ihr euch treffen wollt, dann trefft euch im Freien. Aber darauf zu reagieren, indem man sagt, bleibt möglichst viel zu Hause, das ist die falsche Botschaft.
Das gilt auch für Kunst und Kultur?
Etwas zu schließen, nur damit es geschlossen ist, ist doch nicht sinnvoll. Sie haben die Pinakotheken angesprochen: Da ist doch jetzt kein einziger Tourist, die sind weitgehend leer. Wenn schon die Restaurants und die Kinos dicht sind, ja warum dann nicht wenigstens die Pinakotheken mit exzellenter Air Condition und sechs Meter hohen Wänden? Damit strapaziert man die Bereitschaft der Menschen, mitzumachen.
Die Pandemie-Modewörter sind "Impfneid" und "Impfscham" - dahinter verbirgt sich auch und vor allem ein Generationenkonflikt zwischen geimpften Älteren und nicht geimpften Jüngeren. Wie gefährlich kann er für unsere Gesellschaft werden?
So zu tun, als würde man den Jungen nichts abverlangen, die ein Jahr lang auf einen normalen Schul- oder Hochschulbetrieb verzichten und sich stattdessen viel mit den Eltern beschäftigen müssen - etwas, was sie in diesem Alter genau nicht wollen -, wäre falsch. Das sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen, die Zahl der Depressionen unter Jugendlichen ist massiv angestiegen.
Utopie für die Post-Corona-Zeit
Sie halten bei den Salzburger Festspielen die Eröffnungsrede zu den Themen Utopie und Humanismus - legen Sie doch bitte kurz einmal Ihre Utopie für eine Post-Corona-Zeit dar?
Die hat zwei Teile. Der eine: möglichst viel Normalität möglichst rasch zurückgewinnen. Also ich bin skeptisch denen gegenüber, die sagen: Juhu, wir hatten einen tiefen Einschnitt und wir werden jetzt daraus lernen. Wir werden unseren Aktivitätspegel deutlich absenken und die sozialen Kontakte reduzieren. Das hielte ich für ganz falsch. Und zweitens: Wir haben erkennen müssen, dass die großen Probleme global sind und globale Antworten brauchen. Die Pandemie ist eine globale Herausforderung, die Finanzkrise von 2009 mit ihren massiven sozialen und ökonomischen Folgen war eine globale Krise. Wir hatten weder auf die eine Krise noch auf die andere eine globale Antwort. Das muss jetzt auf die Agenda. Wir sind eine Weltgesellschaft, die sich überlegen muss, wie sie die großen Probleme wie Klimawandel, Artenschwund, Umweltverschmutzung lösen will. Dazu gehört auch diese Pandemie, sie wird nicht die letzte gewesen sein. Ich plädiere dafür, nicht den Nationalstaat zur Disposition zu stellen, aber ihn zu ergänzen auf globaler Ebene. Institutionen, die hier handlungsfähig sind, haben wir bisher praktisch nicht.
Eine letzte Frage noch zur K-Frage, die ja nun entschieden ist. Empfanden Sie das Duell Armin Laschet gegen Markus Söder auch als quälend?
Die Kandidatenkür der Union hat gezeigt, wie wichtig es ist, in der Demokratie Regeln zu haben. Wir streiten, aber wir brauchen einen Konsens über die Regeln, nach denen wir streiten. Einen Konsens höherer Ordnung gewissermaßen. Sonst wird das schwierig.
Wie heißt die nächste Bundeskanzlerin oder der nächste Bundeskanzler?
Keine Ahnung. Das entscheiden die Wähler.
Von Julian Nida-Rümelin und seiner Frau Nathalie Weidenfeld gibt es ein neues Buch, das sich mit den Gefahren durch Corona für unsere Gesellschaft beschäftigt: "Die Realität des Risikos. Über den vernünftigen Umgang mit Gefahren". Piper, 224 Seiten, 24 Euro.