Julian Nida-Rümelin: "Alles ausloten, was zum Frieden führt"

AZ: Herr Nida-Rümelin, Sie warnen in Ihrem Buch vor einem neuen Kalten Krieg. Welche Anzeichen sehen Sie dafür?
JULIAN NIDA-RÜMELIN: Es geht um Perspektiven nach dem Ukraine-Krieg. Mir war wichtig, dass wir uns klar machen, wo wir hin wollen. Es kann durchaus sein, dass wir nach diesem Konflikt in einem neuen Kalten Krieg aufwachen, wobei der Eiserne Vorhang dann nicht wie einst durch Deutschland geht, sondern möglicherweise durch die Ukraine. Ich bin mir nicht sicher, ob das wünschenswert ist. Man muss sich überlegen, ob man nicht lieber eine multipolare Welt will, in der Europa eine kooperative, hoffentlich friedensfördernde Rolle spielt. Oder ob man gar - und das fände ich erstrebenswert - in Richtung einer Stärkung der globalen Zivilgesellschaft in Verbindung mit mehr internationaler Interdependenz und mehr kulturellem Austausch gehen möchte. Auf dem Weg waren wir ja einige Jahre lang.
Sie schreiben, eine nachhaltige Friedensordnung nach dem Krieg könne es nur geben, wenn die geopolitische Konfliktlage in der Region entschärft wird. Wie könnte das gelingen?
Das ist die große Herausforderung. Eine Situation, in der Angreifer belohnt werden, ist hoch instabil. Deswegen ist es wichtig, dass die Ukraine unterstützt wird und Putin seine Kriegsziele nicht erreicht. Auf der anderen Seite ist langfristig ein Frieden in Europa ohne eine Einbeziehung Russlands in eine kooperative Sicherheitsarchitektur völlig undenkbar. Russland wird nicht von der Landkarte verschwinden und es ist nach wie vor die größte Nuklearmacht der Welt. Deshalb brauchen wir eine Sicherheitsarchitektur, bei der Angriffe auf der einen Seite nicht belohnt werden - und auf der anderen Seite niemand Angst haben muss, sei es rational oder irrational.
"Es muss auf jeder Ebene so sein, dass der Verteidiger sich erfolgreich zur Wehr setzen kann"
Wie lässt sich das erreichen?
Albrecht von Müller hat dazu im Buch einen wichtigen Beitrag geschrieben. Es geht um etwas, das in den 70er Jahren schon intensiv diskutiert wurde und teils sehr erfolgreich in Abrüstungsvereinbarungen gemündet ist, nämlich die strukturelle Nichtangriffsfähigkeit: Es muss auf jeder Ebene so sein, dass der Verteidiger sich erfolgreich zur Wehr setzen kann. Dann gibt es keine Kriege.
Könnte man die Waffenlieferungen an die Ukraine als einen Beitrag dazu verstehen? Schließlich erhöhen sie ihre Verteidigungsfähigkeit.
Es ist wichtig, dass die Ukraine sich verteidigen kann. Aber wer den Sieg der Ukraine über Russland als Ziel ausgibt, geht den Weg in die Konflikteskalation. Und wer das Ziel ausgibt, man sollte sich damit abfinden, dass Russland über die Ukraine siegt, belohnt den Angreifer. Beides ist falsch. Ein Sieg der Ukraine über Russland bedeutet Sieg über eine Nuklearmacht, die unbegrenzte Möglichkeiten zu weiterer Eskalation hat. Die Rückeroberung der Krim hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj noch vor wenigen Monaten als Ziel ausgeschlossen, weil sie Hunderttausende Tote mit sich bringen würde. Das hat sich in der Rhetorik mittlerweile geändert, aber selbst der oberste US-amerikanische Militär James Mattis hat vor kurzem öffentlich erklärt, dass er das für ausgeschlossen hält. Wir sollten jetzt alles ausloten, was zum Frieden führen kann. Vor diesem Hintergrund finde ich es einigermaßen irritierend, dass der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba unlängst eine internationale Konferenz befürwortet hat, die auslotet, wie die Friedenschancen sind - und die Reaktionen darauf auch im Westen äußerst verhalten ausfielen.
Tatsächlich wurde die aktuelle Debatte zuletzt von der Forderung nach einer Lieferung deutscher Leopard-2-Kampfpanzer bestimmt. Nach langem Abwägen hat Kanzler Scholz nun eingewilligt. Wie stehen Sie dazu?
Ich bin kein Militärexperte, aber ich stelle mir die Frage, wo die Grenze zwischen der Unterstützung der Verteidigungsfähigkeit der Ukraine gegen russische Angriffe und der Ermöglichung einer dramatischen Konflikteskalation liegt. Wenn die Lieferung schwerer, zum Angriff geeigneter Waffen die Illusion nährt, die Ukraine könne einen umfassenden Sieg über Russland erreichen, dann wäre das einer Friedenslösung ebenso abträglich, wie wenn das Fehlen solcher Waffen die Illusion nährt, Russland könne einen umfassenden Sieg über die Ukraine erreichen. Diese gefährliche Gratwanderung muss der Bundeskanzler, aber nicht nur er, bewältigen. Lockere Sprüche helfen dabei nicht.
Sie haben eingangs gesagt, ein Frieden ohne die Einbeziehung Russlands in eine kooperative Sicherheitsarchitektur sei undenkbar. Die SPD, also Ihre Partei, hat gerade ein neues Papier zur Außenpolitik vorgestellt, in dem es sinngemäß heißt, es ginge nun nicht mehr um Sicherheit mit, sondern Sicherheit vor Russland. Wie finden Sie das?
In dem Papier wird wesentlich vorsichtiger formuliert, als es in früheren Verlautbarungen, etwa von SPD-Chef Lars Klingbeil, der Fall war. Damals hieß es noch, man organisiere die Sicherheit gegen Russland. Jetzt hat er gesagt: So lange Russland diese Politik betreibt, müssen wir Sicherheit vor Russland organisieren. Mit dieser bedingten Formulierung kann ich leben. Wir haben aktuell drei revisionistische Großmächte, die sich allesamt nicht dem Internationalen Strafgerichtshof unterstellt haben und sich damit einer internationalen Rechtsordnung entziehen: China, Russland - und die USA. Alle drei haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten versucht, den Status quo zu ihren Gunsten zu ändern. Das führt uns in eine hochgefährliche Lage, aus der wir wieder herausmüssen. Der Ukraine-Konflikt ist dafür nur das offenkundigste Beispiel. Schon 1997 hat der damalige US-Außenpolitiker Joe Biden davor gewarnt, die Nato bis an die Grenzen Russlands zu erweitern. Das sei zu gefährlich. Wir haben es in den vergangenen Jahren versäumt, eine Sicherheitsarchitektur unter Einbeziehung Russlands aufzubauen.
"Sanktionen müssen so gestaltet sein, dass sie von kriegerischen Eskalationen abschrecken"
Sie plädieren nicht nur für eine sicherheitspolitische Kooperation, sondern auch für eine wirtschaftliche Verflechtung. Ist das Prinzip "Wandel durch Handel" aber nicht gerade mit Blick auf Russland gescheitert?
Als die USA entschieden haben, sich am Ersten und Zweiten Weltkrieg zu beteiligen, war das Ziel jeweils, mit dem Kriegseintritt einen Frieden danach zu ermöglichen und ihn stabil zu gestalten. Theodore Roosevelt hatte die bis heute unbestreitbare These, dass Interdependenz die Kosten eines Krieges erhöht. Da geht es nicht um "Wandel durch Handel", sondern darum, die Wahrscheinlichkeit von Kriegen zu verringern. Würden wir allerdings anfangen, Handel nur noch mit gleichgesinnten Staaten zu betreiben, also Demokratien mit Demokratien, sind das sehr ungünstige Voraussetzungen für eine langfristige Friedenssicherung. Das ist meine These. Ich bin sehr kritisch gegenüber einer Globalisierung, bei der völlig einseitige Abhängigkeiten entstehen und jeder nur produziert, wofür er die besten Bedingungen hat. Dann haben wir überall ökonomische Monostrukturen. Aber Interdependenz ist friedensfördernd. Hinzukommt, dass eine generelle Deglobalisierung auf dem Rücken des Globalen Südens ausgetragen würde, was wir auch jetzt bei den Corona-Maßnahmen gesehen haben: Der Globale Süden war der Hauptbetroffene mit Hunger, Armut, Elend und abbrechenden Lieferketten. Das können wir uns auch aus diesem Grund nicht leisten.
Sanktionen, schreiben Sie, sollten das letzte Mittel der Politik sein. Im Moment sind sie wohl eher das erste und einzige.
Sanktionen müssen so gestaltet sein, dass sie von kriegerischen Eskalationen abschrecken und demjenigen, der sie verhängt nicht mehr schaden als demjenigen, der damit belegt wird. Ob man damit einen Regime Change erreicht, ist fraglich. In Kuba hat das über Jahrzehnte nicht funktioniert. Das Embargo hat das Regime in Havana eher stabilisiert. Was im Iran geschieht, muss man sehen. Die Erfolgsbilanz von Sanktionen in der Geschichte ist nicht besonders gut - aber ich habe nichts gegen Sanktionen als Mittel der Friedenssicherung. Allerdings: Wenn es keine Handelsbeziehungen gibt, kann es auch keine Sanktionen geben.
In welcher Rolle würden Sie Europa in einem neuen Sicherheitssystem konkret sehen?
Europa hat keine ruhmreiche Geschichte in der internationalen Politik, woran wir manchmal von indischen Außenministern oder südafrikanischen Regierungschefs erinnert werden müssen. Wir haben den Kolonialismus und den Imperialismus zu verantworten und viele Probleme heute rühren daher: Konflikte zwischen afrikanischen Staaten, deren Grenzen von den Kolonialmächten völlig absurd gezogen wurden, etwa. Das sprich dafür, eine gewisse Demut an den Tag zu legen und nicht den Eindruck zu erwecken, wir in Europa entscheiden jetzt, was richtig ist in der Welt. Aber gerade vor dem Hintergrund dieser bitteren Geschichte und der zwei Weltkriege, die ja auch von Europa ausgegangen sind, sollte Europa sich als kooperative Macht verstehen. Europa spielt wirtschaftlich in derselben Gewichtsklasse wie China und die USA. Aber dieses Gewicht bringt es nicht in die Waagschale. Wir hängen sicherheitspolitisch am Tropf der USA. Die EU hat keine überzeugende gemeinsame Außenpolitik, allenfalls eine Außen-Wirtschaftspolitik, die halbwegs funktioniert. Europa sollte sich als die dritte große kooperative Macht der Welt neben China und den USA verstehen und eine entsprechende Souveränität in der Außen- und Sicherheitspolitik entwickeln, was der französische Präsidenten Emmanuel Macron schon seit Jahren fordert. Vielleicht ist das einer der wenigen positiven Effekte des Krieges in der Ukraine, dass Europa gezwungen ist, über sich selbst nachzudenken.
Sind Sie bei SPD-Chef Klingbeil, wenn er sagt, dass Deutschland dabei eine Führungsrolle übernehmen sollte?
Naja, Deutschland hat als wirtschaftlich größte Macht in Europa de facto eine Führungsrolle. Der italienische Philosoph Angelo Bolaffi hat einmal empfohlen, Deutschland solle der gutmütige Hegemon in Europa werden. Aber dafür ist es zu klein. Das würde seine Kräfte überspannen. Deutschland ist darauf angewiesen, dass andere EU-Staaten kooperieren. Allerdings ist Deutschland zusammen mit Frankreich auch außenpolitisch die wichtigste Größe in Europa. Das anzunehmen, und nicht den Fehler zu begehen, den wir jahrzehntelang gemacht haben, nämlich sich auf internationale Interventionen zu konzentrieren und die Landesverteidigung völlig zu vernachlässigen, würde ich sehr empfehlen.